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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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unten angekommen war, ging ich auf sie zu und fragte: »Darf ich auch wieder rodeln?« Sie schaute mich an, und ohne eine Antwort ging sie an mir vorbei und kletterte wieder den Hügel hinauf. Mit meinem Schlitten. Auch wenn ich erst fünf Jahre alt war, das beeindruckte mich. Jedes Mal, wenn dieses Mädchen wieder unten ankam, fragte ich: »Gibst du mir den Schlitten bitte zurück?!« Aber sie ignorierte mich einfach und rodelte weiter. Ich war wie gelähmt. Sie ignorierte mich, weil sie das bekommen hatte, was sie wollte. Das sollte mir eine Lehre sein. Fast eine Stunde ging das so. Claudia rodelte. Ich stand da wie ein zu kurz geratener Schneemann. Dann kam meine Oma und nahm Claudia den Schlitten weg. »Was soll das?«, schrie sie. »Ich will noch rodeln.« Ich war noch nicht mal wütend. Ich stand nur da und starrte sie an. Wer war sie, was war sie? So ein selbstsicheres, starkes und wunderschönes kleines Mädchen. Sie hatte mich vollkommen in ihren Bann geschlagen. Schwupp, da war ich verliebt!
    Ebenso plötzlich, wie sie in mein Leben getreten war, war sie auch wieder verschwunden. Es vergingen sechs Jahre, ehe ich sie das nächste Mal sah – doch ich dachte während der ganzen Zeit immer an sie. Erst auf der Bruno Tesch sah ich sie dann wieder. Wir wurden zusammen eingeschult. Wir kamen in dieselbe Klasse. Wir befreundeten uns. Bereits nach zwei Wochen lud mich Claudia zu sich nach Hause ein. Sie lebte zusammen mit ihrer Oma in einer Dreizimmerwohnung am Paulinenplatz. Dort, wo wir uns im Winter vor sechs Jahre kennengelernt hatten. Jetzt saßen wir in ihrem Zimmer, sie zündete ein paar Kerzen an und legte eine Platte von Diana Ross auf. Ich betrachtete ihr Gesicht. Die Narbe auf ihrer Nase leuchtete rot im Schein der Kerzen. Die Narbe war ihr Markenzeichen. Sie machte sie zu einer Amazone. »Wo hast du die Narbe her?« Sie sah mich an, fixierte mich, wie es die großen Männer auf St. Pauli machten. »Gut, ich erzähl’s dir. Als ich noch klein war, haben sich meine Eltern mal gestritten. Sie haben sich andauernd gestritten. Aber dieses eine Mal sind Gegenstände durch die Wohnung geflogen. Teller, Tassen. Ich hatte vielleicht ’ne Angst. Eine Tasse hat mich getroffen. Bums. Voll auf die Nase! Ich bin hingefallen, hab geheult. Die Nase hat geblutet. Seitdem hab ich die Narbe und wohne bei meiner Oma. Noch Fragen?« Ich schüttelte den Kopf. Sofort hasste ich Claudias Eltern. Wut stieg in mir auf. Ich wollte Claudia beschützen. Wie konnte man ein solches Mädchen nur so behandeln! Claudia beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen und einem Lächeln. Sie wusste, was ich dachte.
    Später knutschten wir unter der Bettdecke, und ich versuchte alles so zu machen, wie ich es in den französischen Filmen gesehen hatte, wenn ich durch den Schlitz der Schlafzimmertür meiner Eltern heimlich Fernsehen geschaut hatte.
    Auch wenn wir beide wussten, dass es mehr als nur ein Techtelmechtel war, wir sehr viel mehr füreinander empfanden als bloßes Verknalltsein, so wurde mir doch später klar, dass wir unmöglich hätten zusammen sein können. Claudia brauchte ebenso wie ich das Gefühl, ständig jemand Neuen von sich zu beeindrucken. Es gehörte zu unseren täglichen Auftritten auf der Bühne St. Pauli, dass wir nach dem Respekt und der Anerkennung anderer verlangten. Die Vorstellung von einem trauten Liebespaar, das Händchen hielt, sich verliebt in die Augen sah und Süßholz raspelte, gehörte für uns in die Welt der Normalbürger – ganz egal, was auch immer wir tief in uns spürten. Als Halbstarker auf St. Pauli wollte man so viele Frauen wie möglich erobern, so wie es die Luden taten. Je mehr Frauen man eroberte, desto mehr Respekt bekam man auf der Straße. Und als Frau träumte man davon, dass die Männer einen umwarben und sich gegenseitig überboten im Kampf um die Gunst.
    So blieb es trotz alldem, was wir füreinander empfanden und was wir uns bedeuteten, bei Annäherungen. Aber nur schon diese Annäherungen waren so schön und sind mir bis heute so wertvoll, dass sie mir nie wieder aus dem Kopf gehen werden.
    Anders als ich stapfte Claudia sehr früh ins richtige Leben. In der »Motte«, einer Art Kulturzentrum mit Jugendclub, gab es immer wieder heftige Streitereien zwischen ihr und anderen Mädchen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie dabei auch nur ein einziges Mal als Verliererin das Feld verlassen hat. Claudia tanzte viel in den Jugenddiskos der Gegend. Wenn an einem dieser Abende

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