Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
ich, würde er sich an mir schneiden. Ich schaute ihn an und versuchte, meine Tränen zu unterdrücken. Es war völlig egal, was ich machen würde. In Kalles Augen konnte es nur falsch sein. Sah ich ihn bestimmt und ernst an, nahm er es als Provokation. Weinte ich, war ich eine erbärmliche Memme. Er wollte, dass ich auf den Boden schaute. Aber das tat ich nicht. Mein Blick hielt stand. Beim geringsten Widerwort gab’s ein paar geballert. Um meine Standhaftigkeit zu beweisen, drückte ich meinen Rücken durch. Dann ging ich in mein Zimmer, schlug mit den Fäusten immer wieder gegen die Wand, packte meine Sachen und lief auf die Straße.
Auch dort häuften sich die Auseinandersetzungen. In der Schule gab es immer öfter Ärger und Streitereien. Denn dort konnte niemand weglaufen. Aber es gab eine Regel: Mit Freunden raufte ich mich nicht. Ich hatte einmal einem Freund eine eingeschenkt. Danach hatte ich ein derart schlechtes Gewissen, dass ich ihm all mein Spielzeug schenkte. Das war mir eine Lehre. Denn entschuldigen kann sich jeder. Aber auf dem Kiez muss man es wiedergutmachen, wenn man Mist gebaut hat. Worte sind Silber, Taten sind Gold.
Ich prügelte mich nicht, weil mich etwas dazu trieb. Nein! Aber die Schlägerei, der Schlagabtausch wurde mein bevorzugtes Ausdrucksmittel. Es versetzte mich in einen Rausch, worauf ich nicht sonderlich stolz war. Meist tat mir mein Gegenüber leid. Oder ich schämte mich. Manchmal weinte ich sogar danach, wenn ich jemanden verletzt hatte. Absurd! Aber so war es.
Auf St. Pauli waren Schlägereien eine diffuse Attitüde des Mannseins. Sie bedeuteten das, was in anderen Kreisen der Gesellschaft höfliche Floskeln waren. Mit einer gekonnten Schlägerei verschaffte man sich Respekt, man setzte sich durch, man eroberte sich einen Platz und damit eine Stimme. Diese Attitüde kam zu mir. Einfach so, weil ich auf dem Kiez aufwuchs. Und ich hieß diese Attitüde willkommen. Denn als Schläger wollte mich meine Umwelt sehen. Ich hatte den aufrechten Gang eines Gockels, mit herausgestreckter, aufgepumpter Brust. Wie mein Vater. Es war die Ich-bin-bereit-Haltung. Ein deutliches Signal an die anderen Gockel auf St. Pauli. Denn ein Gockel will mit seinen Hennen alleine bleiben. Mit anfangs harmlosen Kämpfen, die ich dankbar annahm, machte ich mir einen Ruf. Nicht, dass ich mich als schlagkräftiger Hauer bewies! Wir rangelten nur. Wir probierten uns aus, testeten unsere Körper und unsere Kräfte. Es kam vor, dass ein Lehrer dazwischenging. Leider, denn so nahm er dem Verlierer die Lehrstunde. Das Verlieren, das Winseln um Erbarmen waren notwendige Erfahrungen, wenn man seine Kraft richtig einschätzen und beherrschen wollte. Sehr schlimm war es, wenn man sich aus irgendeinem Grund einem Kampf nicht stellen konnte. Dann wurde man wochenlang von Schamgefühl gequält.
Aber nicht alle trugen Konflikte offen und körperlich aus. Mein Onkel Peter beispielsweise war immer ein ruhiger Zeitgenosse. Zumindest äußerlich. Innerlich schrie er – jahrelang – ganz laut. Seine Frau Mona war promisk. Sie hatte was mit meinem Vater, mit ihrem Nachbarn, mit vielen anderen netten Männern. Sie war lebenslustig und es dürstete sie nach Abenteuern, nach Liebe. Sie wollte sich verschwenden. Onkel Peter arbeitete immerzu und fraß alles in sich hinein. Der Kühlschrank war sein Freund, und er verbrachte viel Zeit mit ihm. Bis er Tante Mona eines Nachts erwürgte. Da ließ er seinen Körper sprechen, und er sprach mit einem Griff um ihren Hals alles aus, was ihm weh tat, all die Jahre schon. Es gab keine Widerworte. Die ließ er nicht mehr zu. Sie wollte ja etwas sagen. Aber sein Argument war klar und konsequent. Es war das Letzte, was er ihr sagte. Mona sprach nie wieder, sie lachte ihn auch nie wieder aus. Danach wurden meine Cousinen von der Feuerwehr aufgeweckt. Mona von Ärzten verdeckt. Peter von der Schmiere eingelocht. An diesem Tag war ordentlich was los bei uns. Die gesamte Familie kam. Mir wurde nichts gesagt. Alle weinten und diskutierten. Die Männer unter sich. Diskutierten. Die Frauen unter sich. Weinten. Da musste Bossi ran. Der Staranwalt, der schon unseren Stammgast im Betten Voss verteidigt hatte, weil er Ruth in einer Mauer hat verschwinden lassen. Bossi war gut. Das wusste er. Oma setzte all ihr Erspartes (das eigentlich für meine Ausbildung gedacht war) für die Verteidigung von Onkel Peter ein. Der Fall war in aller Munde und in jeder Zeitschrift. Ich erfuhr von dem Mord nur,
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