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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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eine Fremde da war, der die Jungs hinterherschauten oder die Claudia als Eindringling in ihr Revier empfand, ging sie los, beschmierte die Widersacherin mit Senf, schrie sie an und beleidigte sie aufs übelste. Claudia war mutig und immer bereit, sofort in den Kampf zu ziehen. Genau das erwartete sie auch von ihren Männern. So zog es sie schon sehr früh zu den Kiezgrößen von St. Pauli.

6 Allein zu zweit
    C laudia war die Frau meines Lebens. Trotzdem war ich getrieben von dem Gedanken, andere Mädchen zu erobern. Viele Mädchen. So wie es die Luden machten. Eines Nachts träumte ich von Revuetänzerinnen. Sie tanzten in dem Spiegel, der bei meiner Oma im Flur hing. Ich stand davor, und eine Stimme sagte zu mir: »Diese Frauen werden dein Untergang sein, Michel! Dein Untergang!« Schweißgebadet wachte ich auf. Diesen Traum werde ich nie vergessen. Doch auch danach jagte ich jedem Rock hinterher – vielleicht, um die Prophezeiung möglichst schnell wahr werden zu lassen.
    Nachts war der Hamburger Berg eine lustige Gegend für die Großen, die sich dort versammelten und feierten. Der Tag aber war unsere Zeit. Dann trafen wir uns dort. Dann gehörte die Straße uns. Wenn unsere Eltern noch schliefen, bis die Sonne unterging. Direkt über einer Kneipe am Berg wohnte Mia. Eine junge Deern, halb Deutsche, halb Chinesin. Ihre Mutter arbeitete als Animierdame in der Kneipe.
    Mia und mich verband ein stilles Verstehen. Wir trafen uns häufig. Sie war sehr melancholisch – ein Gefühl, das ich schon lange in mir entdeckt hatte. Manchmal kam es mir so vor, als hätte mir meine Mutter nicht nur ihre Sehnsucht nach einem anderem Leben ins Nest gelegt, sondern auch noch ein wenig von der Traurigkeit darüber, dass sich diese Sehnsucht für sie nie erfüllen würde.
    Mia und ich konnten stundenlang schweigend nebeneinander am Kai sitzen. Wenn wir unsere Blicke an die ausfahrenden großen Schiffe hefteten und uns ausmalten, wohin sie fuhren, empfanden wir die gleiche Sehnsucht. Mia hatte einen geheimen Ort, der auf der anderen Seite der Elbe lag. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte oder wenn sie Ruhe brauchte, zog es sie dorthin. Ihre Mutter machte oft auch noch nach der Schicht Party. Von Mias geheimem Ort aus hatte man einen tollen Blick. Alles war ruhig, und St. Pauli wirkte von dort wie ein beschauliches, harmloses, unschuldiges Städtchen. Oft saßen wir zusammen dort und träumten uns weg, weit weg.
    Mia sprach häufig von ihrem Vater, den sie nie gesehen hatte. Ihre Sehnsucht war es, dass er sie eines Tages abholen und mit nach China nehmen würde. Da wollte ich mit. In China, stellte ich mir vor, würde ich dann Kung-Fu lernen. Selbstverständlich in einem Shaolin-Kloster. Ein Jahr lang gingen wir zusammen zu ihrem Versteck auf der anderen Seite der Elbe, ohne dass etwas passiert wäre. Mia war wahrscheinlich die einzige platonische Freundin meines Lebens.
    Eines Tages kam ich an der Kneipe vorbei, über der sie wohnte. Sie war geschlossen. Mia war nicht mehr da. Sie war weg. Ich hatte keine platonische Freundin mehr.
    Bei mir zu Hause häuften sich die Auseinandersetzungen; mit meiner Mutter, mit Kalle, der beim kleinsten Laut explodieren konnte wie eine Landmine. Es war eine aufregende Zeit. Sehr aufregend. Die Aufregung trieb mich auf die Straße. Denn nur dort hatte ich meine Freiheit. Zu Hause (war das überhaupt mein Zuhause?) blieb mir keine Luft zum Atmen. Ich kam mir vor wie ein Fremdkörper. Ich musste raus. RAUS! Dort sog ich sie ein, die klare, scharfe Brise, die durch die Straße trieb, atmete tief durch und lief los.
    Um mich von meinen Eltern abzugrenzen, begann ich alle möglichen Fremdwörter zu benutzen. Stolz präsentierte ich jeden Tag ein neues Wort. »Pass mal auf, Michel!«, regte sich meine Mutter auf. »Wenn du mir blöd kommst, kannssu zusehen, wo du bleibst.« Oder sie schimpfte: »Red nicht so gestelzt, sonst scheuer ich dir eine.« Ersteres wäre mir nur recht gewesen. Alleine zusehen müssen, wo ich bleibe, das fand ich toll. Die Androhung von Schlägen kitzelte nur meinen Stolz. Kalle spürte meine wachsende Kraft. Er machte alles nieder, was mich interessierte, versuchte mir meine Neugier auszutreiben, versuchte mich zu provozieren. Ab und an kassierte ich eine Backpfeife von ihm. Dann stand er vor mir, der Boxer, die Fäuste geballt, bereit für einen Kampf mit seinem elfjährigen Stiefsohn. Aber irgendwann schneiden sich solche Typen an ihrer Vergangenheit. Irgendwann, das wusste

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