Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
weil ich irgendwann bei meiner Oma die Praline las. Ich wollte mir ein paar nackte Frauen anschauen, stattdessen bekam ich die nackte Wahrheit präsentiert. Ein besonderer Leckerbissen, diese Ausgabe. Onkel Peter kam nach Santa Fu. Für drei Jahre. Bossi hatte den Richtern klarmachen können, dass all die Scham, der Zorn und die Demütigungen, die Onkel Peter jahrelang in sich hineingefressen hatte, in diesem Moment so stark in ihm gewirkt hatten, dass er die Kontrolle verlor. Er plädierte auf minder schweren Totschlag – Omas Erspartes war gut angelegt. Einundachtzig war ein ereignisreiches Jahr für meine Familie. Auch aus einem noch anderen Grund.
Kalle wollte eines Nachts nach seiner Schicht mit einer Kollegin noch schnell wohin. Er liebte die rasante Fahrt, und so nahm er einen massiven Betonpfeiler voll auf die Hörner. Platz machen war nie seine Stärke. Die Kollegin wurde vom Motorblock zerquetscht und war sofort tot. Kalle, sportlich, wie er war, flog, weil er nicht angeschnallt war, Kopf voraus durch die Windschutzscheibe. Typisch Kalle – immer mit dem Kopf durch die Wand. Diesmal rettete es ihm das Leben. Neun Monate musste er im Krankenhaus bleiben. Für mich waren es neun Monate der Ruhe. Das erste Mal war mein Zuhause mein Königreich. Als ich ihn im Krankenbett sah, musste ich an Jesus denken: leidend, vernarbt am ganzen Körper und mit einem Bart. Obwohl er immer ein Tyrann gewesen war, tat er mir nun leid. Er war zertrümmert, am Boden, am Arsch. Kalle war außer Gefecht gesetzt. Mir brachte das für eine gewisse Zeit neue Freiheiten. Während dieser Zeit lernte ich jemanden kennen, der mein Leben in eine neue Richtung stoßen sollte.
Wie so oft hing ich vor unserem Haus ab, als ein muskulöser Junge mit markantem Gesicht und Schnauzer auftauchte. Er trug seine dicken, schwarzen Haare lang, vorne hatte er einen Pony. Er sah südländisch aus, ein Türke vielleicht. Er zog einen Handkarren hinter sich her. Ich hatte ihn schon häufig gesehen. Er verteilte bei uns in der Gegend das Hamburger Abendblatt. »Ey, du wohnst hier?«, fragte er mich. Das erste Mal sprachen wir miteinander. »Ja, im elften Stock.« – »Wo gehst du zur Schule?« – »Auf St. Pauli.« Eine kurze Pause. »Kommst du mit? Dann unterhalten wir uns.« Er hieß Ümet, und wir fanden sofort dieselbe Sprache. Auf dem Weg von St. Pauli nach Eimsbüttel redeten wir über Kung-Fu, über Bodybuilding und Muskeln, von denen Ümet, deutlich mehr hatte als ich. Seine Muskeln waren äußerst beeindruckend. In meinem Umfeld gab es damals noch nicht viele, die einen solch trainierten Körper hatten. »Du musst nur Klimmzüge machen und Liegestütze. Das reicht, Michel.« Aber Ümet war auch älter. Ich war zwölf, er sechzehn.
Wenn ich ehrlich bin, beneidete ich ihn auch um seinen männlichen Oberlippenbart. »Du musst jetzt schon anfangen, dich zu rasieren, Michel! Auch wenn noch nichts da ist. Dann wachsen die Haare schneller.« Sofort fing ich an, mir heimlich die Oberlippe zu rasieren – erfolglos.
Es war der Beginn einer Freundschaft. Wir hatten ein gemeinsames Idol: Bruce Lee. Bruce-Lee-Poster waren meine Tapete! Ich imitierte die Kampfschreie von Bruce Lee. Auf dem Schulhof kämpfte ich wie Bruce Lee. Zumindest dachte ich das. Bruce Lee imponierte uns. Als Schüler musste er sich gegen seine britischen Klassenkameraden durchsetzen. In den USA musste er sich als Einwanderer durchschlagen, sich sein Leben erkämpfen – gegen alle Widrigkeiten. Er hat es zu etwas gebracht. Er begeisterte mich nicht nur wegen seiner Lebenskraft und seiner herausragenden Kampfkünste, sondern auch wegen seiner Filme, die ich natürlich alle im Aladin gesehen hatte, immer und immer wieder: »Todesgrüße aus Shanghai«, »Der Mann mit der Todeskralle« oder »Mein letzter Kampf«. Bruce Lee war sein eigener Herr, einer, der sich von keinem etwas sagen ließ. Ein freier, kluger, wilder Typ, körperlich und mental stark. Er hatte Selbstbewusstsein, und wenn ich seine tänzelnden Kämpfe sah, fing ich an zu träumen. Für ihn schien es keine Grenzen zu geben – nicht einmal die Gesetze der Natur schienen ihm Einhalt gebieten zu können. Er verteidigte die Schwachen, gegen Verbrecher, gegen die Mafia. Er war der Held der Ausgestoßenen und Underdogs. Ümet und ich, wir wollten wie Bruce Lee sein.
Ümet gefiel mir. Er war klug, stark, er hatte eine natürliche Autorität und einen tollen Humor. Für mich war er wie der ältere Bruder, den ich
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