Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
hinterher. Er kannte die Floskel auch.
Ich tat Fritz’ wirre Geschichten als eine Folge seines intensiven Drogen- und Alkoholkonsums ab. Armer Kerl, dachte ich, armer Kerl. Spätabends klingelte mein Telefon. Es war Fritz.
»Ey, Michel! Komma rum, muss kurz ma mit dir reden.«
»Ja, sach an!«
»Nee, nee.« Fritz’ Stimme wurde leiser. »Geht nich, ich werd abgehört.«
»Aha! Wer hört dich denn ab, Fritz?«
»Komm rum. Erklär ich dir. Bitte.«
Ich legte auf.
Ich hätte den Anruf einfach ignorieren können. Aber Fritz war nun mal mein Freund. Selbst wenn er wirklich durchdrehte, durfte ich ihn nicht im Stich lassen. Gerade dann nicht! Ich fuhr also zu ihm. Die Sorge um ihn wechselte sich ab mit Wut und Genervtsein. Er öffnete die Tür und zog mich in die Wohnung. Er war vollkommen aufgelöst: »Die verfolgen mich, Michel! Ich bin mir ganz sicher. Die waren in der Wohnung. Die wollen mich fertigmachen!« Er zitterte, und seine Augen beobachteten hektisch den Raum. Er trug seine Bomberjacke. Er zog sie anscheinend gar nicht mehr aus, war immer bereit zur Flucht vor seinen Dämonen. Fritz schwieg. Er wartete auf eine Reaktion. Doch ich konnte ihm nicht einmal mehr in die Augen sehen.
An der Wand neben dem Spiegel im Flur hingen lauter Notizzettel, Dutzende. Darauf standen lauter Namen. Fritz war meinem Blick gefolgt. »Das sind meine Feinde. Damit ich sie nicht vergesse.« Er notierte sich seine Gegner und pinnte sie an die Wand. Die ganze Wand war voll mit Notizzetteln. Aus einem Reflex heraus suchte ich meinen Namen. Ich war erleichtert, als ich ihn nicht fand. Fritz war nur noch ein Schatten seiner selbst.
»Komm, Fritz«, sagte ich. »Lass uns was essen gehen. Wie früher.«
Aber Fritz wollte nicht. Stattdessen fing er wieder an: »Die verfolgen … die …«
Ich ging, ganz einfach. Ich ging und aß ein Eis bei Toni am Eppendorfer Weg. Es war Spätsommer. Ein lauer Wind wehte. Der Himmel erstrahlte in den schönsten Farben. Aber in der Ferne sah ich dunkle Wolken aufziehen. Es würde bald einen Sturm geben. Ich atmete tief ein. Bald würde nichts mehr so sein, wie es einmal war.
Zwei Wochen später wurde Fritz in die Forensische Psychiatrie eingeliefert.
30 Die letzte Schlacht
F ritz war weg, und auch in mir wuchs das Gefühl, dass ich nicht mehr auf St. Pauli bleiben wollte. Noch immer wusste ich nicht, wie ich mit all dem umgehen sollte, was passiert war. Als Freund schien ich schon längst gescheitert zu sein. Ich hatte Fritz nicht helfen können, als noch die Zeit dazu gewesen wäre, nun hatte ich Angst davor, Fritz in der Psychiatrie zu sehen. Angst davor, das zu sehen, was Fritz in den Wahnsinn getrieben hatte, was Claudia umgebracht hatte. Ich hatte Angst davor, denn die gleichen Dämonen, die Fritz in den Wahnsinn getrieben hatten, die Claudia umgebracht hatten und die auch ihre Krallen nach Ümet ausstreckten, die gab es auch in mir. Ich verdrängte alles um mich herum, drehte mich in meinem Denken nur noch um mich selbst. Ich verbrachte immer mehr Zeit allein, lief durch die Straßen, in denen ich damals dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit erlebt hatte. Nun aber spürte ich eine Bedrückung, ein Gefühl der Enge. Ich suchte Ablenkung. Ich hatte mich zwar größtenteils aus dem Gangleben zurückgezogen. Aber ab und zu hing ich immer noch mit alten Gangfreunden ab.
Ich erzählte ihnen von den Typen, die mich übers Ohr gehauen hatten und was für einen Stress das verursacht hatte. Und da war er wieder, dieser Hunger, es wissen zu wollen, sein Ehrgefühl verteidigen zu wollen, seinen Mann zu stehen. Wir wussten schon gar nicht mehr, was das bedeutete: Ehrgefühl. Es war nur noch ein diffuser Grund, um losschlagen zu können, gegen irgendwen, gegen irgendetwas, vielleicht gegen uns selbst, um uns im besten Fall aufzuwecken und im schlimmsten Fall kaputt zu machen. Wir putschten uns gegenseitig auf.
»Yoaa. Lass uns die fertigmachen. Wir sind die Champs!« Vielleicht hoffte ich, das alte Leben für einen Moment zurückholen zu können. Wir machten uns auf, diesen Jungs einen Besuch abzustatten. Es würde mein letzter Zug durch die Straßen von St. Pauli mit den Champs sein.
Die Gang war nicht mehr so schick wie wir früher. Die Jungs trugen die Hosen in den Socken, die Pullover in den Hosen. Manche steckten sogar die Jacken in den Hosenbund, um noch sportlicher auszusehen. Mittlerweile konnte fast jeder bei den Champs mitmachen. Drogen und Kriminalität hatten die
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