Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Mann zog reflexhaft die Hand zurück, als sei der Schlüssel glühend heiß.
Äußerlich mochte Herman Verbist einen relativ ruhigen Eindruck erwecken – innerlich glich er einer tickenden Zeitbombe, einem siedenden Frittiertopf.
Der Rücksitz des Fiat Uno war mit Müll übersät: Plastikverpackungen, benutzte Kleenextücher, alte Zeitungen, das Kerngehäuse eines Apfels, Verpackungen von Süßigkeiten.
Herman Verbist drehte das Lenkrad bis zum Anschlag nach links, trat die Kupplung und schaltete in den Leerlauf. Dann stieg er aus, nahm den durchweichten Karton, über den er sein Sakko drapiert hatte, und stellte ihn auf den Rücksitz. Das Sakko hängte er auf links gedreht über den Beifahrersitz. Der kleine Fiat setzte sich ruckelnd in Bewegung.
Etwa zehn Minuten später kam Panik in ihm auf, die er bisher unterdrückt hatte. Verbist versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und schaffte es schließlich, seiner Unruhe Herr zu werden. Kalter Schweiß klebte ihm an den Händen.
Ein Wegweiser: Mechelen.
Herman Verbist atmete auf und blickte über die Schulter nach hinten. Aus dem Karton drang kein Laut.
Er konzentrierte sich auf den nass glänzenden Asphalt, doch plötzlich versperrte ihm ein Bus den Weg. Erst bremste er zaghaft, dann trat er abrupt aufs Gaspedal. Nur mit knapper Not gelang es ihm, dem Bus auszuweichen.
Verbist sah verstört in den Rückspiegel, und als er sein Gesicht erblickte, kniff er die Augen zu Schlitzen zusammen. Die nassen Haare hingen ihm in die Stirn, und seine Wangen waren mit Matsch und geronnenem Blut verschmiert. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze und rieb sich mit dem durchnässten Sakko das Gesicht sauber.
Ich hasse dich. Du bist ein Versager. Siebenunddreißig, schütteres Haar, ordinär, unfähig und ängstlich. Und feige noch dazu, sonst hättest du dich von dem Bus überfahren lassen.
Wasser spritzte hoch, als Verbist mit dem rechten Vorderrad auf den Bürgersteig fuhr.
Der Schlag riss ihn aus seinen Gedanken, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Nachdem er den schlingernden Fiat wieder unter Kontrolle gebracht hatte, schob er eine Kassette in den Recorder.
Er besaß drei Kassetten: James Last, The Four Tops und Bob Seger & The Silver Bullet Band. Schon seit drei Wochen hörte er ununterbrochen James Last. Als die ersten Hammondorgeltöne erklangen, lenkte er mit dem Knie weiter und presste die Hände auf beide Ohren. Er verabscheute James Last. Er verabscheute auch The Four Tops und Bob Seger, aber er besaß nichts anderes. Die Technik war schon seit Jahren überholt, er hatte den Recorder und die Kassetten beim Kauf des Wagens gratis dazubekommen. Verbist stellte sich gelegentlich vor, die Tonträger gehörten zu einer aussterbenden Art, von der Ausrottung bedroht.
Er nahm die Hände wieder von den Ohren und biss die Zähne zusammen.
Bloß kein Radio. Im Radio hört man nur schlechte Nachrichten, Staumeldungen, Wetterwarnungen und betrügerische Reklame.
Ein GTI mit wummernden Boxen überholte mit Vollgas. Herman Verbist blickte verschreckt zur Seite.
»Ich hasse GTIs«, murmelte er kaum hörbar. »Alle GTIs und vor allem die Fahrer, junge Schnösel, die von ihren neureichen Eltern das Geld in den Hintern geblasen kriegen.«
Der Sportwagen raste um die Kurve.
Aber heute bin ich viel glücklicher als alle diese Papasöhnchen zusammen. Ich liebe Laura Pausini mit ihrer wunderbaren Stimme, vor allem die zarten Töne. Irgendwann lerne ich Italienisch, vielleicht fange ich gleich morgen an, damit ich sie verstehen kann.
Auf den Straßen war nichts los. Keine heulenden Sirenen, keine streitenden Leute, keine todesmutigen Katzen, keine Unfälle, nichts.
Verbist sah auf den Kilometerzähler und fluchte.
»Mist, schon wieder vergessen, auf null zu stellen!«
Vom Park zum Bahnhof und dann nichts wie nach Hause. Schätzungsweise fünf Kilometer, von hier sind es noch etwa zwei. Bisher bin ich höchstens zwei gefahren.
Nervös trommelte er auf dem Lenkrad herum.
Knapp einen Kilometer zu wenig. Wenn es mehr ist als ein Kilometer, ist die Grenze überschritten, die höchstzulässige Abweichung, und ich erkranke an Krebs, in spätestens einem Jahr. Oder vielleicht auch erst in zehn Jahren, zehn sind okay. Wenn der Unterschied mehr als einen Kilometer beträgt, runde ich zu meinem Vorteil ab. Krebs ist eine schlimme Krankheit. Wenn ich irgendwann exakt hinkomme, werde ich hundert und glücklich obendrein. Aber das gelingt mir nie, ich unterschätze die
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