Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Entfernungen immer ein bisschen, denn wenn ich drüberliege, muss ich anhalten und mich vor das nächste Auto werfen. Das sind die Spielregeln. Tabletten wären mir lieber. Ich kann Schmerzen nicht ertragen.
Ein Stadtstreicher schwankte den Bürgersteig entlang. Ein angenehmer Schauder lief Verbist das Rückgrat hinunter. Er warf einen Blick auf den Kilometerzähler und fluchte noch einmal.
Mist, schon wieder vergessen, auf null zu stellen!
Am Bahnhof von Mechelen manövrierte er den Fiat mühsam in einen der freien Parkplätze unter der Brücke. Er zog das Handschuhfach auf und holte eine Plastikmappe heraus, nahm den Pappkarton vom Rücksitz und trat mit einem Knall die Tür zu.
Mehr als eine Minute lang starrte er reglos den zerbeulten Kleinwagen an. Von Melancholie überwältigt, drehte er sich um und bog achselzuckend um die Ecke, wo er mit einer raschen Bewegung die Tür eines verdreckten grauen Golfs öffnete und das Paket vorsichtig auf dem Rücksitz deponierte.
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Montag, 24 . November – 19 Uhr 52
D irk Deleu tastete die Brusttasche seiner Schafswolljacke ab und fand, wonach er suchte.
Das Hartplastik der alten, vertrauten Polizeimarke gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Die Marke rechtfertigte seine Anwesenheit an diesem unheilvollen Ort.
Nachdem die Spurensicherung abgeschlossen war, hatte Bosmans ihm grünes Licht gegeben, das Haus nach Belieben auf eigene Faust zu durchsuchen.
»Versetz dich in den Täter, Dirk«, hatte ihm der Untersuchungsrichter aufgetragen und ironisch grinsend hinzugefügt: »Vertrau deiner Nase.«
Jos Bosmans hatte den in Ungnade gefallenen Dirk Deleu im Eilverfahren rehabilitiert, nachdem sich in Mechelen die Wogen nach den Rassenunruhen geglättet hatten. Deleu war erleichtert, aber auch etwas irritiert, weil Bosmans so tat, als sei alles in bester Ordnung. Als sei nie etwas geschehen. Als hätte Dirk bei ihrem letzten Fall keine vertraulichen Informationen an die Presse herausgegeben.
Noch während er beschloss, mit seinem Chef endlich einmal ein klares Wort darüber zu reden, fiel sein Blick auf den Querbalken, der die offene Küche überspannte. Auf dem hell gebeizten Tannenholz waren rotbraune Flecken zu sehen.
Blut. Das muss Blut sein.
Deleu ging an der gemauerten Anrichte entlang und blieb unter dem Balken stehen. Er schluckte, und sein entzündeter Hals brannte wie Feuer. Er blickte zum Fenster, an dem der Regen in Strömen hinabfloss. Die Tropfen prasselten gegen die Scheibe.
Der Abstand zwischen dem Fenster und dem Balken, in dem deutlich erkennbar ein spitzer Knochensplitter steckte, betrug mindestens vier Meter. Deleu fröstelte und ging in die Hocke, den Rücken gegen die Küchentür gelehnt.
Wonach soll ich suchen, Jos?
Er schlug die geknickte Aktenmappe auf, die er die ganze Zeit unter dem Arm getragen hatte. Sie enthielt den Autopsiebericht von Yvette Verbist, geborene Serneels, die sich eine zweiläufige Flinte in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte.
Da steht sie. Dort am Küchenfenster. Mit dem Rücken zum Wohnzimmer und den Blick auf unendlich, als sie den Abzug drückt.
Mit dem Handrücken wischte sich der Ermittler den kalten Schweiß von der Stirn.
Die Autopsie hatte ergeben, dass die Frau im vierten Monat schwanger war. Ihr Mann, Herman Verbist, war spurlos verschwunden. Daher waren zunächst Zweifel an der Selbstmordtheorie aufgekommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er es gewesen, der die Notrufnummer gewählt hatte. Nicht von zu Hause aus, sondern aus einer öffentlichen Telefonzelle im Stadtzentrum von Mechelen.
Nach Herman Verbist, einem arbeitslosen Angestellten, wurde mit Hochdruck gefahndet, bisher jedoch ergebnislos. Auch sein Auto, ein Fiat Uno, war nirgends gesehen worden.
Wo bist du? Hast du den Selbstmord inszeniert?
Nein, Rechtsmediziner Van Grieken war sich ganz sicher. Es war Selbstmord und kein getarnter Mord gewesen.
Hat sich Verbist nach dem Selbstmord seiner schwangeren Frau ebenfalls das Leben genommen? Gut möglich. Aber warum verhält sich Bosmans dann so komisch? Ich habe das Gefühl, dass er sich nicht in die Karten gucken lassen will. Er verheimlicht mir etwas, aber was? Und er hat Angst.
Deleu fuhr mit dem Zeigefinger über das gräuliche Papier der Akte. Der Bericht war siebzehn Seiten dick, und es lagen einige lose Blätter dazwischen, hauptsächlich Protokolle von Aussagen der Nachbarn.
Aus dem Balken, der die Küche überspannte, waren tatsächlich Knochensplitter gezogen
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