Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
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H ilde Plaetinck wischte sich eine Träne von der Wange, während sie auf dem Parkplatz des Kinocenters an den Reihen geparkter Wagen vorbeiging.
Dancer in the Dark
mit der eigenwilligen Björk in der Hauptrolle hatte in ihr eine sentimentale Saite zum Klingen gebracht.
Erst als ein Passant sie etwas zu lange musterte, steckte sie ihr Taschentuch wieder in die Handtasche und schaute verlegen in eine andere Richtung. Manchmal fühlte sie sich noch immer wie das kleine Mädchen, das in Großmutters Bett heimlich Süßigkeiten naschte, mitten in der Nacht plötzlich hochschreckte und verzweifelt nach seinem Teddybär suchte. Dabei war sie alles andere als das zarte Püppchen oder die dumme Blondine, für die sie gern gehalten wurde. Sie konnte sehr beherrscht und manchmal so sachlich und selbständig auftreten, dass es fast schon arrogant wirkte.
Doch heute fühlte sie sich verwundbar. Sie spürte, wie die Unsicherheit an ihr nagte. Sie hatte sich einen Tag freigenommen und einen Psychologen aufgesucht, um mehr Klarheit in ihr Leben zu bringen. Aber außer rasenden Kopfschmerzen war nicht viel dabei herausgekommen. Der Mann, dieser Doktor … wie hieß er noch gleich? …, hatte ihr zugehört, mehr aber auch nicht. Stattdessen war er in einem moralinsauren Sermon zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Beziehung mit Stefaan am besten so schnell wie möglich beenden sollte. Einfach unfassbar: Es kam ihr vor, als hätte sie mit ihrem Vater ein Beratungsgespräch geführt, allerdings zu einem Stundenhonorar von vierzig Euro. Darum hatte sie beschlossen, am Nachmittag ins Kino zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Sie seufzte. Vielleicht hatte dieser Moralapostel, dieser Dr.Beherman, ja doch recht – schließlich hatte sie heute schon wieder nichts von Stefaan, ihrem Liebhaber, gehört.
Wahrscheinlich war er wieder ganz in seiner Rolle als treusorgender Familienvater aufgegangen. Drei Tage zuvor hatte sie ihn kurz getroffen, auf dem Weg zur Arbeit. In einer Imbissbude hatten sie zusammen einen Kaffee getrunken.
»Ach, Stefaan.«
Plötzlich hielt sie inne.
Moment mal, wo steht mein Auto?
Der Panikanfall schnürte ihr die Kehle zu und trieb ihr das Blut in die Wangen.
Der Wagen hat doch hier gestanden, oder nicht?
Hilde Plaetinck aus Vilvoorde, vierundzwanzig Jahre alt und Single, schaute sich verblüfft um. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung und lief mit steifen Beinen an der endlosen Reihe geparkter Autos vorbei, erst langsam, dann immer schneller. Sie wühlte in ihrer Handtasche und schloss erleichtert die Augen, als ihre Finger den Schlüsselbund ertasteten.
Ihr grasgrüner Opel Corsa stand doch noch auf dem Parkplatz! Die junge Frau atmete auf und lief auf den Wagen zu. Doch nach etwa fünf Metern blieb sie abrupt stehen und beugte sich vor, als wollte sie durch ein Schlüsselloch schauen. Plötzlich brach ihr der Schweiß aus.
Dieser schwarze Fleck … das ist kein Schatten. Da sitzt jemand auf der Rückbank.
Hilde Plaetinck ging langsam auf den Wagen zu. Erst zögernd, mit klopfendem Herzen, dann mit geballten Fäusten, fest entschlossen, sich ihr sauer verdientes Kleinod nicht widerstandslos stehlen zu lassen. Die Absätze ihrer modischen Schuhe klackten nervös über das Pflaster.
Auf der Rückbank des Corsa saß eine Frau, zusammengekauert, mit einem grobgewebten Tuch über dem Kopf. Sie zitterte, und als Hilde gegen die Fensterscheibe klopfte, zuckten ihre Schultern. Erschrocken schaute sie auf, zog das Tuch noch fester ums Gesicht und krümmte sich wieder zusammen.
Hilde Plaetinck riss die Tür auf und wich gleichzeitig einen Schritt zurück. »Wie … Was machen Sie in meinem Auto?«
Die Frau zuckte die Achseln, zitterte und zog züchtig ihr Kleid nach unten. Ihre Worte kamen zögerlich, zurückhaltend, mit einer tiefen, fast männlichen Stimme. »Entschuldigen Sie bitte. Tut mir leid, aber ich war so furchtbar müde und …«
Der Rest des Satzes ging im Brausen eines vorbeifahrenden Wagens unter. Hilde Plaetinck spürte, wie ihr Selbstvertrauen wuchs. »Was, zum Teufel, tun Sie in meinem Auto? Ich werde die Polizei rufen!«
»Die … die Tür war nicht verschlossen, und mir war so kalt, und ich leide unter hohem Blutdruck. Ich hab mich verirrt, und mein Schwiegersohn ist fort. Ich konnte einfach nicht mehr weiter. Da wollte ich mich bloß einen Moment ausruhen. Tut mir leid, ich werde … Ich …« Die alte Frau griff nach den Handgriffen einer großen
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