Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

kirchlichen Autoritäten entweder mit Schweigen oder mit Verachtung.
    »Was können wir gegen eine solche Entscheidung tun?«, erkundigte sich Séfora. »Bleibt uns noch Zeit, etwas zu tun, wenigstens ein Bruchstück des göttlichen Plans zu ändern, und sei er noch so unbedeutend?«
    Die Erzengel wandten sich an die drei jungen Leute.
    »Der Schlüssel, mit dem ihr das Schicksal eures Planeten abwenden könnt, wurde in eure Hände gelegt«, sagte Samael und zog die Mongolenfalte, die ihm sein asiatisches Aussehen verlieh, noch enger zusammen. »Wenn ihr bereit seid, alles Vertraute zurückzulassen und auf die andere Seite zu wechseln, werden wir dafür sorgen, dass jeder von euch dem Pfad folgt, der ihm von Anbeginn der Zeit eigen ist. Wir können euch aber nicht zwingen. Die Reise wird sehr lang und voller Strapazen sein, und vielleicht verlangt sie euch mehr ab, als ihr bereit seid zu geben … aber letztlich müsst ihr euch aus freien Stücken entscheiden. Ihr wählt ohne alle Einschränkungen vollkommen autonom und tragt alle Konsequenzen, die sich eines Tages ergeben.«
    »Wenn ihr es auf euch nehmt«, fuhr der Erzengel in weiblicher Gestalt fort, »könnt ihr wahrscheinlich nie mehr einen Fuß in die materielle Welt setzen. Ihr werdet euch in dem Prozess zutiefst verändern, und wenngleich er euch Türen öffnet, von denen ihr nicht einmal zu träumen wagtet, so wird euch der Rückweg in euer altes Leben verwehrt sein.«
    Die drei sahen sich an. Mauro stand die Antwort schon ins Gesicht geschrieben. Schließlich hatte er kaum etwas, das ihn an diese Welt band, und wenn er sie verlassen musste, um eine Mission zu erfüllen, würde er es sich nicht zweimal überlegen, erst recht nicht, wenn es um mehr ging als um seine eigene Seele.
    Erik zweifelte. Aber in seinem tiefsten Innern wusste er bereits, dass er einwilligen würde. Allerdings waren seine Motive alles andere als rein und selbstlos. Seine Seele war erfüllt vom Zorn. Dem Zorn, der schon die Schwerter von Achilles, Hesion, Hagen von Tronje oder König David und anderen sagenhaften Helden geführt hatte. Er hatte wahrlich nicht vor, auf die Gelegenheit zur Rache zu verzichten, wenn sie sich bot, das Wundmal des Desmodu auf seiner Stirn brannte noch immer teuflisch.
    In Tanyas Herz nagte der Zweifel mit Abstand am stärksten. Sie hatte ihren Eltern zwar gesagt, dass sie fortgehen müsse, aber sie war immer davon ausgegangen, dass die Reise zeitlich begrenzt sei. Dass sie früher oder später nach Hause, zu ihrer Familie, in ihr normales Leben zurückkehren würde. Aber nach allem, was diese Wesen verkündeten, würde es am Ende wahrscheinlich kein Zurück mehr geben. Wenn sie sich entschloss mitzugehen, wäre es für immer.
    Sie blickte auf die Stadt, die wie ein Gedicht aus Lichtern auf den Hügeln lag und in ihrer stillen Erhabenheit die kommende Zwietracht zwischen den Welten verherrlichte. Irgendwo dort unten schliefen ihre Eltern den Schlaf der Gerechten und warteten darauf, dass ihre Tochter die erste Aufgabe ihres Lebens bestand. Eine Aufgabe, die nur sie bewältigen konnte, nur sie ganz allein, und die nichts anderes als eine Metapher für das Erwachsenwerden war, das schon so viele Dichter in ihren Versen gepriesen hatten.
    Sie warteten geduldig darauf, dass sie eine Frau wurde. Dass das, was sie zu erledigen hatte, gut war und dass sie ein Sandkorn zur Pyramide der Güte beitrug und so ihre Vorstellung von der Zukunft stützte. Sie würden sie nie mehr wie ein kleines Mädchen behandeln, und sie musste ihr Vertrauen rechtfertigen.
    Voller Stolz auf sich und ihr Schicksal (und erwachsener als sie sich je gefühlt hatte) hob sie das Kinn und wandte sich den Erzengeln zu. Mit fester Stimme fragte sie: »Okay. Wo fangen wir an?«

Conde, Victor:
    Boten des Lichts – Die Auserwählten
    ISBN 978 3 522 62105 2
    Aus dem Spanischen von Nadine Mutz
    Einbandgestaltung und -typografie: Tina Lechner Grafik & Buchdesign, Stuttgart
    E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
    © 2010 by Víctor Conde
    Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Heraldos de la Luz bei Editorial Hidra, Madrid.
    © 2014 by Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien für die deutschsprachige Ausgabe
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