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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Víctor Conde
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durchdringende Schmerz in ihrer Brust gab ihr deutlich zu verstehen, dass sie zu erschöpft war. Wenn sie jetzt darauf bestand, das Schwert zu materialisieren, wäre die Anstrengung für sie mit aller Wahrscheinlichkeit tödlich. Und sie hatte nicht einen so weiten Weg zurückgelegt, um alles auf den letzten Metern zu vermasseln.
    Die Schatten, die sie mit ihrem besonderen Sehvermögen sofort wahrgenommen hatte, hatten noch keine physische Gestalt angenommen. Aber sie konnte sie spüren, sie waren ganz nah. Und manchmal waren sie auch so schon in der Lage, große Schäden anzurichten oder Menschen, die ihnen über den Weg liefen, einfach zu töten.
    Ihre Aufgabe war es, genau das zu verhindern. Sie verließ die Gasse und ging mutig eine Straße entlang, in der sie noch nie zuvor gewesen war, in einer Stadt, die ihr völlig unbekannt war. Sie betete. Noch war es nicht zu spät, um das erste Mädchen zu retten.
    Wenn sie sich jetzt erwischen ließ, wäre nicht nur ihre Mission gescheitert, sondern die Menschheit als Ganzes, als große Einheit, als Versprechen für die Zukunft. Sie sähe sich zu einem vorzeitigen, schrecklichen Ende verurteilt.
    Nicht im Traum dachte sie daran, das zuzulassen.
    Aber wenn sie den bevorstehenden Weltuntergang verhindern wollte, musste sie sich beeilen.
    Normalerweise fanden alle kulturellen Veranstaltungen im schuleigenen Festsaal statt. Beim Hochbegabtenwettbewerb machte man eine Ausnahme. Weniger als kulturelle denn als gesellschaftliche Veranstaltung diente sie den höheren Schulen und Gymnasien – und ihren jeweiligen Heerscharen von Eltern – als Vorwand, mit ihren besten Schülern zu prahlen. Und damit auch wirklich alle das hohe Bildungsniveau der Schulen bestaunen konnten, präsentierten sie ihre Schützlinge in aller Öffentlichkeit.
    Der pädagogische Leiter des Verdemar-Gymnasiums Señor Velasco hatte sich schon während der letzten drei Trimester mental auf diesen Tag vorbereitet. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich angesichts der möglichen Beförderung die Hände rieb, und konnte den Augenblick, wenn seine Schüler die Streber der anderen Schulen in sämtlichen Fächern vernichtend schlugen, kaum erwarten. In Mathematik würde eine Salve auf sie niedergehen, gefolgt von einem Granatfeuer in Chemie, Literatur und Philosophie. Wenn das nicht reichte, durften sie sich in Geografie auf ein Artilleriefeuer mit Luftwaffenunterstützung der Sozialwissenschaften gefasst machen. Und sollte die Eroberung des Pokals dann immer noch nicht gesichert sein, würden die Überflieger aus der Kunstgeschichte im Sirenengeheul vom Flugzeugträger starten.
    Es versprach ein denkwürdiger Abend zu werden, den man noch oft zitieren würde wie die Heldensagen der Antike. Und es wäre sein Abend. Der Abend, für den man ihn mit einer Beförderung zum örtlichen Schulleiter belohnen würde.
    Er würde dieses Ereignis in vollen Zügen genießen. Wenn nur Tanya nicht wäre.
    Velasco wusste, dass es in jedem Jahrgang ein schwarzes Schaf gab, eine verfaulte Traube, die, wenn man sie mit den anderen in einen Korb warf, am Ende alle verdarb. So war es in allen Gymnasien, überall auf der Welt. Alle hatten ihre Tanya Svarensko.
    Das Mädchen stammte aus einer russischen Einwandererfamilie, die sich im Land niedergelassen hatte, als Tanya gerade ein paar Monate alt war. Die wenigen Male, die ihre Eltern zu den Sprechstunden erschienen waren, hatten sie einen anständigen Eindruck gemacht. Der Vater hatte große, schwielige Hände von seiner Arbeit auf dem Bau. Die Mutter war bei einer Versicherung angestellt, wo sie den ganzen Tag telefonierte, sodass sie die Sprache um Welten besser beherrschte als ihr Mann, und sie hatte große ehrliche blaue Augen und schönes alabasterfarbenes Haar, das sie ihrer Tochter weitervererbt hatte.
    Sie fielen kein bisschen unangenehm auf, aber Velasco traute den Ausländern nicht. Wenn sie ihr Land verlassen müssen, um uns mit ihrer Anwesenheit zu belästigen, wird das schon seinen Grund haben, pflegte er gerne zu sagen.
    Velasco hatte die Probleme schon gerochen, als Tanyas Eltern sie damals in der Schule angemeldet hatten. Die Jugendliche war aufrührerisch, rebellisch auf eine verborgene, elegante Weise (sie war nicht straffällig, aber es schien auch nicht möglich, sie auf den rechten Weg zu bringen), und obendrein hatte sie an einer Kultur Gefallen gefunden, die derzeit unter den Mädchen ihres Alters kursierte und die ihn völlig aus dem Häuschen brachte.

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