Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
mir keine Ablenkung leisten. Statt auf ihre Flirtoffensive einzusteigen, bleibe ich freundlich, aber unverbindlich.
»Kann ich mir nicht vorstellen«, sage ich.
Sie lacht.
»Na, hören Sie mal. Sie beleidigen meine Heimatstadt.«
»Wahrscheinlich geben Sie mir jetzt ein Zimmer mit Blick auf den Parkplatz.«
Ich versuche, unser Gespräch aufs Wesentliche zu lenken, das Zimmer, das Einchecken.
Ein Routinevorgang. Weiter nichts.
»So was würde ich nie tun«, sagt sie.
Sie tippt etwas in den Computer ein. Dann sieht sie mich an und grinst.
»Es gibt hier wirklich eine Menge zu sehen. Wenn Sie Lust haben, zeige ich Ihnen gern unsere Sehenswürdigkeiten.«
So viel zu meinem Versuch, das Gespräch in neutrale Bahnen zu lenken. Ich muss wohl direkter werden.
»Lust hab ich schon, aber leider keine Zeit. Ich bin geschäftlich hier und habe einen engen Terminplan.«
»Wie schade.«
»Da haben Sie recht.«
Sie reicht mir einen kleinen Papierumschlag mit meinem Kartenschlüssel.
»Zimmer 759. Mit einer schönen Aussicht. Das garantiere ich Ihnen, Mr Gallant.«
»Vielen Dank.«
Ich spreche sie nicht mit ihrem Namen an, obwohl ich ihr Schildchen direkt vor der Nase habe. Diese Begegnung muss möglichst unpersönlich bleiben.
Denn an persönliche Begegnungen erinnert man sich. Und das ist gefährlich.
Ich nicke kurz. Dann trete ich zur Seite, um dem Gast hinter mir Platz zu machen. Vielleicht gönnt er sich ja all die Dinge, die ich mir nicht erlauben darf. Sightseeing, Spaß haben.
Neue Bekanntschaften.
Ich schaue auf den Umschlag in meiner Hand.
Zimmer 759. Das ist der Ort, wo ich warten werde.
Ich ziehe meine Sachen aus.
Ich stopfe sie in einen Plastikbeutel. Den Beutel stecke ich in meine Reisetasche. Ich werde ihn später in einem Altkleidercontainer entsorgen. Auf keinen Fall in einer Mülltonne. Ein Beutel mit Klamotten in einer Mülltonne könnte Verdacht erregen.
Ich sehe meinen nackten Körper im Spiegel.
In Kleidern bin ich ein eher unauffälliger Typ.
Wenn ich nackt bin, kann man das allerdings nicht behaupten.
Zum einen wegen meiner Muskeln. Aber die könnten natürlich auch vom Highschool-Sport stammen. Ich hab extra ein paar Pfund zu viel drauf, damit es nicht so auffällt.
Zum andern wegen der Narbe. Ein hässliches, wulstiges Mal auf der linken Brust.
Eine alte Stichwunde.
Ich fahre mit dem Finger über das taube Gewebe.
Mutter hat mal gesagt, dass es keine schlechten Erfahrungen gibt, sondern nur
lehrreiche
. Lektionen fürs Leben.
Eine meiner lehrreichen Erfahrungen hat unauslöschliche Spuren auf meinem Körper hinterlassen. Aber ich hab auch einiges daraus gelernt. Zum Beispiel, dass man alle Reserven mobilisiert, wenn jemand mit einem Messer vor einem steht. Erst recht, wenn er einem die Klinge fünf Zentimeter tief in die Brust rammt.
Und ich hab noch eine wichtige Lektion gelernt: Dass Mike zu allem fähig ist.
Mit einem Messer in der Brust lernt man eine Menge.
Man lernt, wie man sein Leben rettet. Oder wie man stirbt.
Aber so ist das nun mal, wenn man Soldat ist. Man bereitet sich immer wieder auf solche Situationen vor und kann nur hoffen, dass man im Ernstfall der Sache gewachsen ist.
In den ersten zwei Jahren im Programm wurde ich auf meine neue Aufgabe vorbereitet.
Zwei Jahre, in denen aus einem zwölfjährigen Jungen ein völlig anderer Mensch wurde. Eine Meisterleistung in menschlicher Dressur.
Zuerst habe ich mich dagegen gesträubt. Aber dann habe ich mich drauf eingelassen.
Mein anfänglicher Wunsch zu sterben verflüchtigte sich schnell. Niemand will wirklich sterben. Das ist widernatürlich. Ich stand einfach unter Schock. Der Tod meiner Eltern, Mikes Verrat, die Tatsache, dass man mich gefangen hielt.
Als der Schock nachließ, wurde mein Todeswunsch durch ein natürlicheres Bedürfnis abgelöst.
Den Wunsch zu leben.
Ich stürzte mich voller Elan ins Trainingsprogramm.
Außer mir gab es keine anderen Jugendlichen im Programm. Es gab nur mich und eine Handvoll Profis. Alles Erwachsene.
Ein ganzes Ausbildungsprogramm nur für mich allein. So kam es mir damals jedenfalls vor.
Ich fühlte mich als etwas Besonderes.
Vater koordinierte alles. Mutter tauchte hin und wieder auf, um meine Fortschritte zu überprüfen.
Ich musste auch die Schulbank drücken. In weniger als zwei Jahren paukte ich den gesamten Highschool-Stoff durch und sogar noch mehr.
Und dann gab’s natürlich Sport, Schießtraining, Nahkampfausbildung.
Strategie und Taktik.
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