Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
immer wieder dieselbe Frage durch den Kopf.
Wann ist es vorbei?
Ich muss es wissen.
Ich erledige einen Auftrag nach dem anderen. Wechsle den Wohnort, die Identität, schlüpfe immer wieder in andere Rollen. Und lasse nichts weiter zurück als Leichen. Jeder Job bringt neue Herausforderungen, neue Komplikationen und einen neuen Thrill.
Du bist ein Naturtalent
. Hat Mutter einmal zu mir gesagt. Sie meinte, das hätte sie gleich bei unserer ersten Begegnung gewusst.
Eigentlich hab ich Glück. Wie viele Sechzehnjährige wissen schon, welche Talente sie haben oder was sie mit ihrem Leben anfangen sollen?
Und obwohl ich das alles weiß, lässt mich die Frage nicht los:
Wann ist es vorbei?
Ich denke an die leeren Versprechungen, die Lügen.
Nein, keine Lügen.
Ich habe einfach etwas missverstanden.
Ich war damals noch ein Junge. Woher hätte ich wissen sollen, worum es wirklich ging?
Mike verfrachtete mich in ein Taxi.
An die Fahrt kann ich mich nicht mehr erinnern.
Mike hatte mich betäubt. Er hätte mich genauso gut umbringen können. Das weiß ich inzwischen. Er brauchte nur zwischen zwei Ampullen zu wählen. Einmal drücken tötet das Opfer. Zweimal drücken setzt es vorübergehend außer Gefecht.
Ich erwachte in einem gemütlichen, sonnendurchfluteten Zimmer.
Ich gähnte und streckte mich. Ich dachte erst, ich wäre mit meinen Eltern in dem Ferienhaus in South Carolina, das mein Vater jeden Sommer für vier Wochen mietete.
Doch dann sah ich aus dem Fenster: Die Umgebung war mir völlig fremd.
Das war nicht South Carolina.
Und plötzlich stieg in meinem umnebelten Hirn eine Erinnerung auf.
Mein Vater, der mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt war. Seine schreckgeweiteten Augen.
Ich rannte zur Tür und drückte die Klinke.
Die Tür war verschlossen.
Ich schrie.
Ich warf mich dagegen.
Ich rannte zum Fenster, aber auch das war verschlossen.
Ich versuchte, die Scheibe einzuschlagen, aber die war offenbar aus Sicherheitsglas.
Ich schrie und tobte, warf mich gegen die Wände, demolierte die Einrichtung.
Irgendwann öffnete sich die Tür.
Die Frau, die ich später »Mutter« nennen sollte, stand schweigend im Türrahmen.
»Was ist mit meinen Eltern?«
»Tot.«
Das war das erste Wort, das sie je zu mir sagte. Ich hatte keine Ahnung, dass der Tod die Grundlage unserer Beziehung werden sollte.
Sie führte mich zum Bett und sagte, ich solle mich hinsetzen. Dann stellte sie mich vor die Wahl: Ich könne entweder das Schicksal meiner Eltern teilen oder bei ihr bleiben. Und mich dem Programm anschließen.
Programm
nannte sie es.
Sie erklärte mir in groben Zügen, worum es dabei ging. Ich würde Soldat werden. Ich würde eine Kampfausbildung bekommen und ein psychologisches Training durchlaufen. Ich würde Dinge tun, die andere Jungen nur aus Videospielen kennen.
Es klang nach einem großen Abenteuer.
Sie sagte, die Entscheidung liege allein bei mir.
Aber mir müsse klar sein, dass es nur zwei Alternativen gebe. Ich könne entweder meinen Eltern in den Tod folgen oder Soldat werden.
Ich war zwölf Jahre alt und musste mich zwischen Leben und Tod entscheiden.
Ich entschied mich für den Tod.
Vielleicht aus Loyalität meinen Eltern gegenüber, vielleicht aus Naivität.
Jedenfalls wollte ich bei meinen Eltern sein, selbst wenn ich deswegen sterben müsste.
Also sagte ich zu ihr: »Töten Sie mich.«
Paradoxerweise war das genau die Antwort, auf die sie gehofft hatte. Das Ganze war eine Art Persönlichkeitstest. Und offenbar hatte ich genau die Eigenschaften, die ein guter Soldat haben muss:
Willensstärke
Schwarz-Weiß-Denken
Hartnäckigkeit
Bedingungslose Loyalität
Aus ihrer Sicht waren das alles nützliche Charakterzüge. Sie musste nur noch dafür sorgen, dass aus einem loyalen Sohn ein loyaler Soldat wurde.
Diene dem Programm.
Mutter versprach mir ein neues Leben.
Und genau das habe ich bekommen.
Ich höre Mutters Atem am anderen Ende der Leitung.
»Bist du noch dran?«, fragt sie.
»Ja.«
»Ich hab gesagt, dass wir stolz auf dich sind.«
»Freut mich.«
Stolz. Das ist mein Stichwort. Ich sollte mich jetzt eigentlich verabschieden und auflegen, aber ich tu’s nicht.
Das Schweigen zieht sich in die Länge.
»Ist noch was, Schatz?« Ihre Stimme klingt angespannt.
Wann?
, schreit es in meinem Kopf.
»Nein, nein. Ich würde nur gern möglichst bald weitermachen.«
Sobald ich einen neuen Auftrag habe, hört die Fragerei in meinem Kopf auf. Keine Fragen mehr, keine
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