Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
Und Psychologie.
Und ich musste jede Menge Tests machen. Aber ganz andere als in der Schule. Sie testeten meinen Mut, meine Belastbarkeit, meine kämpferischen Fähigkeiten und meine Flexibilität.
Bei diesen Tests konnte man entweder bestehen oder durchfallen. Wenn man durchfiel, hieß das, dass man sich noch mehr reinknien musste.
Als sie dann endlich meinten, dass ich so weit wäre, erklärten sie mir, worum es bei dem Job eigentlich ging.
Allerdings nannten sie es nicht Job, sondern Mission.
Ich sei ein Patriot, sagten sie.
Deshalb schulde ich meinem Land und dem Programm, dem ich mein neues Leben verdanke, bedingungslose Loyalität.
Vielleicht bin ich ja nicht der Einzige. Vielleicht gibt’s verteilt übers ganze Land noch andere Teenager, die genau wie ich an irgendwelchen Schulen auftauchen und sich an ihre Kontaktpersonen heranmachen. Und dann ihren Auftrag erledigen.
Falls es sie gibt, bin ich jedenfalls noch keinem begegnet.
Doch, einem schon.
Mike. Der Junge, der meinen Vater umgebracht hat.
Der Junge, gegen den ich kämpfen musste, um meine Ausbildung abzuschließen.
Ich fahre mit dem Finger über die wulstige Narbe auf meiner Brust.
Ich denke an Mike, der im Programm mein »Bruder« war. Wie ich ihn gehasst habe.
Ich war damals einfach noch nicht fit genug. Na ja, fit genug eigentlich schon, aber unerfahren.
Ganz im Gegensatz zu heute.
Heute würde mir das nicht mehr passieren.
Aber immerhin habe ich eins gelernt:
Zu überleben.
Ich schalte den Fernseher ein, um mich abzulenken.
Das ist das Schlimmste am Warten. Man hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Und die Erinnerungen kommen wieder hoch. Das tut mir nicht gut.
Ich sehe mir die Nachrichten an.
Irgendwo in Massachusetts ist ein bekannter chinesischer Geschäftsmann an einem Herzinfarkt gestorben. Hier in Providence bringen sie es immerhin in den Regionalnachrichten.
Ich schalte auf CNN um. Kein Wort darüber in den überregionalen Nachrichten.
In den Top-News geht es um eine neue Friedensinitiative im Nahen Osten, die wegen eines Sprengstoffanschlags in Jerusalemgefährdet ist. Der israelische Premierminister, der für seine moderate Haltung bekannt ist, bemüht sich um einen dauerhaften Frieden in der Region, stößt aber auf Widerstand in seiner eigenen Regierung. Man sieht eine mit Trümmerteilen übersäte Straße, dann eine zerstörte Ladenfront. Zum Schluss eine Stellungnahme des israelischen Premierministers, der zur Besonnenheit aufruft.
Ich schalte auf MTV um.
Eine Art Dating-Show für Teenager.
Soll angeblich Reality-TV sein, was es natürlich nicht ist. Ich sehe, dass die Leute lügen. Alles nur gespielt.
Im Programm hieß es immer: Wenn du wissen willst, ob jemand lügt, blende einfach den Ton aus. Oder anders ausgedrückt, achte nicht auf Worte, sondern darauf, wie dein Gegenüber sich verhält.
Manche Leute lügen wie gedruckt. Aber ihr Verhalten verrät sie.
Ich stelle den Ton ab und beobachte die Teenager in der Show: strahlende Gesichter, schmachtende Blicke, plappernde Münder – ein einziges Schmierentheater.
Ich muss an meinen Vater denken. Nicht an den Mann, auf dessen E-Mail ich warte. Meinen richtigen Vater.
Ich sehe ihn vor mir, wie er nach der Uni nach Hause kommt. Im Anzug, mit seiner Aktenmappe unterm Arm. Und dann fällt mir ein, wie er mich mal in sein Institut mitnahm und mich seinen Kollegen vorstellte.
Damals war ich noch ein kleiner Junge. Arglos und voller Vertrauen.
Aber das ist vorbei.
Mangelnde Loyalität
. Das hat Mutter zu mir gesagt, als ich zum Programm kam und von ihr wissen wollte, warum manmich gefangen hielt. »Dein Vater hat es an Loyalität mangeln lassen.«
Es klang wie ein Schuldspruch, als hätte mein Vater einen Verrat begangen. An wem oder was, weiß ich bis heute nicht.
Ich spule die Szene in meiner Erinnerung ab, diesmal ohne Ton. Ich beobachte, wie Dad mit seinen Kollegen spricht. Seine Lippen bewegen sich lautlos. Er stellt mich vor. Ich forsche in seinen Augen. Ich sehe, wie er mit seiner Zutrittskarte eine Sicherheitstür öffnet und mich in sein Labor führt. Ich weiß noch, wie wichtig ich mir vorkam, wie stolz ich war, weil ich an einem Ort sein durfte, zu dem sonst niemand Zutritt hatte. Mein Vater war etwas Besonderes. Er konnte sich diese Freiheiten herausnehmen.
Ich rufe mir sein Büro in Erinnerung, jedes Detail, und versuche dahinterzukommen, wer er war und was er getan hat.
Vielleicht war er gar kein Professor.
Vielleicht war er kein
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