Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
überfordert.«
»Sympathisch, wenn berühmte Menschen dazu stehen, ihre Kunst erlernt zu haben«, sage ich.
»Stimmt. Allzu oft geistern Ideen pränataler Hochbegabung und frühmusikalischer Förderung durch die Kinderzimmer ehrgeiziger Eltern«, behauptet ausgerechnet Papa Lüthi.
»Was lag dem bekannten Schumann eigentlich am unbekannten Brahms?«, grüble ich. »Wann haben die sich kennen gelernt?«
»Der 20-jährige Brahms hat das Ehepaar Schumann in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts getroffen. Diese Bekanntschaft war für seine weitere Entwicklung von großer Bedeutung.«
»Seine musikalische oder seine menschliche?« Ich will es genau wissen.
Jüre präzisiert: »Für beide. Der Briefwechsel zwischen Johannes und Clara ist weitgehend erhalten geblieben. Er belegt die Entwicklung von einer anfänglichen Wertschätzung zu einer innigen Zuneigung. Drei Jahre nach dieser Bekanntschaft schwärmt Brahms: ›Deine Briefe sind wie Küsse‹.«
»Gerade so?«, frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Clara war 14 Jahre älter als Johannes und bereits Mutter von sechs Kindern. Zudem hatte sie als Pianistin in Europa beachtlichen Ruhm erlangt. Beides muss das Bürschchen fasziniert haben.«
Ich nicke: »Auch aus heutiger Sicht scheint Clara eine moderne Frau gewesen zu sein. Sie brachte Mutterrolle und Karriere unter einen Hut.«
»Ja, ihre eigene und die ihres Mannes noch dazu«, sagt Jüre. »Diesem hingegen scheint sein Erfolg nicht allzu gut bekommen zu sein. Schumann landete bekanntlich in einer Nervenheilanstalt.«
»Welche Karriere machte ihm wohl mehr zu schaffen? Die eigene oder die seiner Frau?«
»Schon die eigene«, vermutet mein Assistent.
»Wie reagierte der Hausfreund?«
»Oh, Johannes ließ nichts anbrennen. In Roberts Abwesenheit intensivierte er den Kontakt zu Clara.«
»Wie hinterhältig.«
»Da hegte er offenbar keine Skrupel«, meint Jüre. »Im Gegenteil. Zeitweilig lebte er mit Clara und ihren Töchtern unter einem Dach.«
»Unter einem Dach oder unter einer Decke?«
Mein Assistent schmunzelt vielsagend, denn nach seinem Googeln bleibt für gewöhnlich keine Dateileiche im virtuellen Keller des Webs verscharrt.
»Ob Papa Schumann davon wusste?«, mutmaße ich.
»Wovon?«
»Von Brahms’ Einzug ins gelobte Haus.«
Jüre hebt die Schultern. »Keine Ahnung. Die wahre Intention dürfte ohnehin woanders gelegen haben. Vermutlich hatte es Brahms nicht ernsthaft auf Frau Mama abgesehen.«
»Sondern?«
»Auf eine ihrer hübschen Töchter. Johannes buhlte um die Gunst der 24-jährigen Julie, der drittältesten Tochter.«
Ich schaue meinen Assistenten an, als erwartete ich gleich ein Dementi. Vergeblich.
»Ach, halb so schlimm. Er soll mit seinen wahren Gefühlen derart zurückgehalten haben, dass man, oder vielmehr frau , im Hause Schumann nichtsahnend Julies Verlobung mit dem italienischen Grafen Victor Radicati di Marmorito vorbereitete. Johannes’ Liebe blieb rein platonisch, eventuell unerkannt und vermutlich einseitig.«
Daran wage ich zu zweifeln. »So blind ist keine heiratsfähige Tochter. Und eine behütende Mutter erst recht nicht. Ich vermute, dass Clara die Verlobung mit dem Grafen als Reaktion auf Brahms’ Avancen vorangetrieben hatte. Sie wollte ganz einfach den Musikus nicht zum Schwiegersohn.«
»Die Frage lautete in dem Fall, warum?«, grübelt Jüre. »Wollte sie ihn vielleicht selbst zum Freund?«
»Was, Freund? Zum Liebhaber!«, dopple ich nach.
»Schon möglich«, räumt er ein. »Immerhin hatte er Clara seine Zuneigung schriftlich offenbart. Spät erst erfuhr Johannes von Julies Verlobung.«
»Und, wie reagierte er?«, frage ich.
»Er soll ein ziemlich langes Gesicht gemacht haben, der Schwerenöter.«
»Klar. Schließlich wurde er mehr oder weniger verarscht .«
Was unternahm er?«
»Der Arsch? Er zeigte Größe.«
»Umso schlimmer«, kommentiere ich, unsicher darüber, ob das von Jüre als Verstärkung oder Milderung der Ausdrucksweise gemeint war.
»Vergiss den Allerwertesten. Brahms erschien bei Clara, um ihr eine Rhapsodie zu überreichen.«
»Eine Rhapsodie? Was ist daran groß?«
»Er nannte die Rhapsodie ›Mein Brautgesang‹.«
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. »Warum überreichte der liebestolle Notenschreiber den Brautgesang der Mutter statt der Braut? Was respektive wen wollte er eigentlich erobern?«
»Er begehrte die Tochter und beschenkte die Mutter«, präzisiert Jüre.
»Wie hat es Frau Mama
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