Brainwalking
ich genießen und alles mitnehmen, was sich mir bietet. Gestern Abend entdeckte ich auf einem Plakat die Einladung zum Brainwalking. Treffpunkt heute Morgen 10 Uhr am Haupteingang zum Kurpark.
Also frage ich doch gleich mal beim Frühstück, ob jemand von den anderen Gästen Lust hat, mich zu begleiten. Fehlanzeige. „Doch nicht bei diesem Wetter“, entgegnen mir die Gefragten, teils mit spöttischem Lächeln. Egal, ich lasse mich nicht irritieren. Schließlich stand auf dem Plakat: „Bei jedem Wetter.“
Was ziehe ich denn am besten an? Damit habe ich absolut keine Erfahrung. So entscheide ich mich für Jeans und Sweatshirt, eine Regenjacke mit Kapuze und natürlich meine schnellen Schuhe. Walkingschuhe mit Goretex. Da kann ja wohl nichts schiefgehen. Ob ich etwas mitnehmen muss? Vorsichtshalber packe ich Zettel und Stift ein. Keine Ahnung, ob so was gebraucht wird. Aber es kann ja nicht schaden.
So mache ich mich auf den kurzen Weg zum Kurpark und treffe dort um 09.55 Uhr ein. Da steht schon ein kleines Grüppchen, einige mit Stöcken. Oh Gott, hätte ich die gebraucht? Während ich noch darüber nachdenke, heißt mich eine sportlich gekleidete Frau mittleren Alters willkommen, die sich als Petra vorstellt. Sie ist die Leiterin der Gruppe. Mit strahlendem Gesicht begrüßt sie uns als die Unerschrockenen, die sich bei diesem Wetter hergetraut haben. Immerhin sind wir eine Gruppe von 12 Personen. Junge und Alte, Männlein und Weiblein, zwei Kinder sind auch dabei. Manche zeigen stolz ihr Jogger-Outfit, andere tragen normale Straßenkleidung.
„Hat schon jemand Erfahrungen mit Brainwalking?“, erkundigt sich Petra. Das ist nicht der Fall. Wir sind alle Neulinge. Sie informiert uns, dass wir etwa eine Stunde lang unterwegs sein und über befestigte Wege gehen werden. Ihrem kritischen Blick nach unserem Schuhwerk halten wir alle stand. Zwar tragen einige keine speziellen Sportschuhe, aber alle haben flache Sohlen an offensichtlich bequemer Fußkleidung. „Ist es in Ordnung, wenn wir uns für die nächste Stunde beim Vornamen nennen?“, fragt Petra in die Runde, und alle nicken zustimmend.
„Können wir unsere Stöcke mitnehmen?“, erkundigt sich einer aus der Gruppe. „Klar“, bestätigt Petra und fügt hinzu, „allerdings müsst ihr die nachher ab und zu mal aus der Hand legen.“ Petra schultert ihren Rucksack. Wir starten.
Zügig, aber so, dass alle gut mitkommen, geht sie los. Schon nach wenigen Metern dreht sie sich um, geht ein Stück rückwärts, während sie uns die erste Anweisung gibt. Wir sollen uns einen Partner suchen, den wir noch nicht kennen. Ich gerate an Andreas. Wir stellen uns gegenseitig mit unseren Vornamen vor. Die sollen wir mehrmals aussprechen und mit rhythmischem Klatschen begleiten. Das wiederholen wir einige Male und gehen natürlich dabei weiter. Uns bleibt gerade noch Gelegenheit, unsere Herkunftsorte auszutauschen. So erfahre ich, dass Andreas aus Gelsenkirchen kommt und mit seiner Familie ebenfalls hier Urlaub macht. Da gibt Petra das Signal, dass wir uns neue Partner suchen sollen. Das gleiche Spiel von vorn. Ich lerne Namen, klatsche und gehe dabei durch den noch immer in Nebel gehüllten Park. Nach einigen Wechseln bin ich überrascht. Namen sind sonst überhaupt nicht mein Ding. Aber als Petra uns jetzt auf einer Wiese auffordert, einen Kreis zu bilden und reihum unseren eigenen Namen zu klatschen, können wir tatsächlich alle die Namen der anderen laut im Chor dazu sprechen. Würde das doch im Alltag auch immer so klappen!
Schon geht es weiter. Der Nebel lichtet sich. Wir haben den Kurpark verlassen und befinden uns auf einem Rebweg. Vor einem Wegweiser bleiben wir stehen. Unendlich viele Orts- und Kilometerangaben sind darauf verzeichnet. „Welches Ziel liegt unserem Standort am nächsten?“, fragt unsere Leiterin. Gerda, die vermutlich Älteste von uns, ist am schnellsten. Sie findet ohne Probleme die richtige Antwort, hat sehr schnell die vielen Informationen verarbeitet. Mit Wegweisern kennt sie sich aus, weil sie viel wandert, berichtet sie stolz. Bei weiteren Fragen nach einem Ort mit neun Buchstaben, einem Ziel ohne „e“ oder drei Zielen, deren Entfernung zusammen mehr als 20 km ergibt usw., punkten andere.
„Seid gleich mal ganz still beim Weitergehen. Konzentriert euch auf alles, was ihr hören könnt und merkt euch davon so viel wie möglich“, fordert Petra uns auf. Schweigend marschiere ich durchaus zügig und sperre meine Ohren auf.
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