Brandbücher - Kriminalroman
weißen Fenstern vor roten Klinkern kam ihr bekannt vor.
»1903«, las Karina. »Heidener Straße!« Karina konnte mit dem Straßennamen nichts anfangen. Sie lebte in Stuttgart und war nur für ein paar Wochen zu Besuch in der Heimatstadt ihres Vaters, um sein Elternhaus auszuräumen. Außerdem konnte sie hier in Ruhe darüber nachdenken, wie es nach ihrem Studium weitergehen sollte. Bewerbungen konnte sie überall schreiben.
Ihre Großeltern waren schon vor einigen Jahren gestorben, in dem Elternhaus des Vaters hatte bis vor Kurzem ihre Großtante gewohnt. Katharina Bessling, nach ihr war Karina benannt worden.
Katharina Bessling war die Tante ihres Vaters, die Schwester ihres Großvaters. Karina kannte sie nur von wenigen Besuchen und Telefonaten. Die Großtante, die in ihrer Familie immer nur ›Papas Tante Katharina‹ oder ›die französische Tante‹ genannt wurde, hatte lange in Frankreich gelebt und in dieser Zeit keinen Kontakt zur Familie gehabt. Umso überraschter waren alle, als sie plötzlich wieder in ihre Heimatstadt zog und sich bei ihrem Neffen und seiner Familie meldete. Seit Karina ihr auf der Beerdigung ihres Großvaters begegnet war, hatte sich zwischen ihnen eine lockere Beziehung entwickelt.
Karina starrte die winzige Schrift auf der Rückseite der Postkarte an. Die verschnörkelten Buchstaben, die ganz anders aussahen als ihre eigene Schreibschrift, verwirrten sie. Erst als sie die beiden kleinen Einsen nebeneinander sah, erinnerte sie sich an die Schönschreibstunde im Deutschunterricht. »Heute lernen wir die deutsche Schrift«, hatte ihre Lehrerin damals verkündet und merkwürdige Zeichen an die Tafel geschrieben.
»Das sind ja zwei Einsen«, hatte Karina gerufen, die sich schon als Kind mehr für Mathematik als für Deutsch interessierte. Ihre Deutschlehrerin Frau Höschle nickte ihr anerkennend zu. »Das ist eine gute Eselsbrücke«, sagte sie. »Dieser Buchstabe ist nämlich ein kleines E.« Mit diesem Lob weckte Frau Höschle Karinas Interesse an der merkwürdigen Schrift.
Während die anderen Schüler murrend die Buchstaben nachzeichneten, versuchte Karina, ihren Namen zu schreiben und dann sogar Wörter. Irgendwann beherrschte sie die Schrift so gut, dass sie sie als ihre persönliche Geheimschrift nutzen konnte. All ihre Tagebucheinträge hatte sie auf diese Weise verfasst. Sehr zum Ärger ihrer Schwester, die mit den »Hieroglyphen«, wie sie immer maulte, nichts anfangen konnte.
Karina grinste bei dem Gedanken, der ihr durch den Kopf ging: »Manchmal erfährt man erst viel später, warum man etwas lernen muss.« Das hatte ihr Großvater immer gesagt, wenn sie ihm am Telefon vorjammerte, dass sie ihrer Meinung nach wieder nur unnützes Zeug für die Schule lernen musste. Und das war nicht selten, denn Karina fand alles außer Mathematik und Physik langweilig.
Auch wenn Karinas letzte Einträge in ihr Tagebuch lange zurücklagen, konnte sie die Schrift auf der Postkarte nach einigen Anlaufschwierigkeiten erstaunlich gut entziffern. »Wieder einmal ein Beweis dafür, dass man sich gut merkt, was man als Kind gelernt hat«, murmelte Karina und rückte sich in dem Schaukelstuhl zurecht.
»Katharina Bessling«, las sie erneut in dem Adressfeld. Im ersten Moment hatte Karina nicht Katharina, sondern Karina gelesen. Wieso liegen hier uralte Karten, die an mich adressiert sind, fragte sie sich. Als sie las, was auf der Karte stand, die Beschreibung der Erde und der Nacht, wusste sie erst recht nicht, was sie davon halten sollte.
In dem kleinen Ort, in dem vor ihrem Vater schon ihr Großvater und ihre Großtante aufgewachsen waren, wurde gemunkelt, Katharina Bessling wäre nicht ganz bei Trost. Das hatte ihr die Frau des Zahnarztes zugeraunt, den sie aufsuchte, als sie in den vorletzten Semesterferien für einige Tage bei ihrer Großtante wohnte.
Es war auch ungewöhnlich, dass die französische Tante sich nach Jahrzehnten im Ausland wieder in diesem kleinen Ort niederließ. Zuletzt hatte sie in Frankreich gelebt, wo sie mit ihrem Lebensgefährten ein renommiertes Restaurant geführt hatte.
Wann immer Karina sich bei ihrem Vater und ihrem Großvater nach ihrer Großtante Katharina erkundigte, bekam sie als Antwort: »Frag nicht, du wirst es erfahren, wenn du es wissen musst.« Erst in den letzten Jahren war ihr klar geworden, dass ihr Großvater nur wenig Kontakt zu seiner Schwester hatte. Er konnte es wohl nicht verwinden, dass sie ihn im Zweiten Weltkrieg mit den Eltern
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