Brandbücher - Kriminalroman
sich darüber, dass sie das Angebot ihrer Schwester, gemeinsam das Haus auszuräumen, abgelehnt hatte. Sie wusste, dass Tante Katharina wenig mit ihrer Schwester hatte anfangen können. »Sie ist zu langweilig«, hatte sie einmal gesagt und Karina gelobt, die schon während ihres Studiums längere Zeit in den USA gewesen war und sich dort mit Jobs durchgeschlagen hatte.
»Anne ist so bodenständig wie alle hier, obwohl sie nicht hier aufgewachsen ist«, klagte Tante Katharina, dabei war sie doch selbst aus Frankreich zurück in ihre kleine Heimatstadt gezogen.
»Das ist das Alter, da wird man rührselig und sehnt sich zurück in die Heimat«, pflegte Tante Katharina zu sagen, wenn Karina nach dem Grund für die Rückkehr fragte. Doch Karina war sich sicher, dass etwas anderes dahintersteckte. Tante Katharina hatte ein Haus gekauft, das über Jahrzehnte im Besitz eines Arztes gewesen war.
Immer wieder hatte sie sich erkundigt, ob das Haus zu erwerben war. Erst nachdem der Arzt und seine Frau innerhalb von vier Monaten verstorben waren und die Erben ihre Praxis schon längst woanders eingerichtet hatten, wurde das Haus angeboten. Karinas Tante hatte es gekauft, obwohl sie bereits wusste, dass es der Sanierung der Innenstadt würde weichen müssen.
Warum es ausgerechnet dieses Haus sein musste, darüber hatte Tante Katharina bis zu ihrem Tod vor wenigen Wochen geschwiegen, sogar über ihren Tod hinaus, denn auch in ihrem Testament stand nichts über ihre Beweggründe.
Karina schüttelte sich. Trotz der Decke kroch die Kälte des unbeheizten Dachbodens unter ihre Kleidung. Sie griff nach dem Postkartenstapel, da fiel ihr Blick auf ein großes Schild, das neben der kleinen Kommode lag. Sofort erkannte sie die Handschrift ihres Großvaters.
»Katharinas Sachen«, las Karina und schmunzelte. Ihr Großvater hatte zu den Menschen gehört, die die Intimsphäre anderer achteten. Niemals hätte er Karinas Tagebuch gelesen, so wie er auch niemals das Schränkchen seiner Schwester durchstöbert hätte, solange sie lebte.
Die Karten gehörten also ihrer Tante, das war Karina nun klar. Sie wusste jedoch immer noch nicht, wer sie ihr geschrieben hatte.
»Vielleicht finde ich auf den anderen Karten einen Hinweis«, sagte Karina zu sich und griff nach dem Stapel Postkarten. Die kann ich aber auch unten vor dem Kamin lesen, dachte sie und schüttelte die Decke ab, ehe sie die Klappleiter herunterstieg. Es sah ganz danach aus, als könnte der Aufenthalt in dem alten Haus interessanter werden, als sie erwartet hatte.
*
»Bis Samstag«, verabschiedete sich Bruno Schulze-Möllering. Samuel Weizmann beobachtete, wie sein Freund sich die Haare aus dem Gesicht strich. Bruno war das genaue Gegenteil von ihm, wo er klein war, war Bruno groß, seine blonden Haare stachen gegen Samuels fast schwarzen Schopf ab, sogar ihre Augen waren unterschiedlich. Dennoch hatte sich zwischen ihnen in der ersten Klasse eine Freundschaft entwickelt, die trotz vieler Höhen und Tiefen die ganze Schulzeit gehalten hatte. Für Samuel war Bruno vor allem nach dem Tod seiner Mutter ein Anker.
Bruno schaute mit den klaren blauen Augen in die Welt, die ein Junge in dieser Zeit mitbringen sollte, um Erfolg zu haben. Samuel dagegen hatte die dunklen Augen seiner Eltern geerbt – und seiner Rasse, sagten seit einiger Zeit viele. Dabei gab es auch Juden mit roten Haaren oder grünen Augen. Samuel war deutlich kleiner als Bruno, der nach seinem Vater kam, einem großen, kräftigen Mann, der ebenso gut Tierarzt anstatt Allgemeinmediziner hätte werden können, zumindest von seiner Statur her konnte er es mit jeder Kuh aufnehmen.
Manchmal stellte sich Samuel heimlich vor den Spiegel und verglich sich mit Bildern aus Büchern und Zeitungen, die in ihrem Laden auslagen und die angeblich echte Juden zeigten. Außer den dunklen Haaren und Augen konnte er keine Ähnlichkeit erkennen, aber auch keinen Unterschied zu all denen, die mit einem Ariernachweis wedelten und von ihrem langen, rein arischen Stammbaum schwärmten.
Bruno winkte Samuel ein letztes Mal zu, ehe er mit großen Schritten Richtung Stadt ging. Wie fast jeden Sonntag hatte er mit ihm in der Leihbibliothek von Samuels Vater gesessen und Bücher gelesen, die sie in ihrem Alter noch nicht lesen durften.
Samuels Vater besaß eine kleine Buchhandlung in der münsterländischen Kleinstadt. Die einzige weit und breit. Da nicht alle Menschen das Geld hatten, um sich Bücher zu leisten, befand sich in einem
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