Brandbücher - Kriminalroman
nicht von den Karten lösen und fror lieber. Anfangs war es mühsam, die deutsche Schrift zu lesen; je länger sie las, umso leichter fiel es ihr. Doch noch immer wusste sie nicht, wer ihrer Großtante die Karten geschrieben und warum sie die Karten auf dem Dachboden aufbewahrt hatte.
Karina schob sich so dicht wie möglich an den Kamin. Sie betrachtete die Vorderseite der Postkarte. »Am Markt«, las sie. Nichts auf dem Bild war ihr vertraut. Ein großer Platz mit blühenden Bäumen, einer kleinen Mauer und Häusern, wie sie sie aus der Heimatstadt ihres Vaters kaum kannte. Sie versuchte, sich an den Marktplatz zu erinnern, den man zwangsläufig überqueren musste, wenn man durch die Stadt bummelte. Kein einziges Gebäude ähnelte denen auf der Karte.
Karina wunderte sich, dass die Menschen auf den Bildern sich in ihrer Kleidung kaum von den heutigen Bewohnern unterschieden. Auffällig war, dass es keine Autos gab und keine einzige Leuchtwerbung. Sie sah die Rückseite genauer an und entdeckte ganz klein die Jahreszahl ›1930‹. Unglaublich, wie sehr sich das Aussehen der Städte in 80 Jahren verändert hatte. Damals gab es keine Leuchtreklame, keine Ampeln, kaum Autos, nur einige Menschen, die auf dem Platz standen.
»Wer hat diese Karten geschrieben?«, fragte Karina die große Puppe mit dem Porzellankopf, die in einem Sessel vor dem Sofa saß. Sie sah die anderen Karten an. Es war eindeutig immer die gleiche Handschrift.
Karina stand auf, um sich einen Kaffee zu kochen. Bei Kaffee und Anisplätzchen konnte sie am besten denken. Ihre Großmutter hatte sie auf die Idee gebracht. Sie hatte ihr vor jeder Prüfung in der Schule eine Dose voller Anisplätzchen gebacken.
Rezepte!, schoss es Karina durch den Kopf. Ihre Großmutter hatte in einer Kladde Rezepte gesammelt. Jeder durfte seine Rezepte dort eintragen. Vielleicht fand sie darin einen Anhaltspunkt, wem die Schrift auf den Karten gehörte.
Während die Kaffeemaschine zischte, suchte Karina in dem Regal über der Spüle nach dem Rezeptbuch ihrer Großmutter.
»Das muss doch hier irgendwo sein«, schimpfte sie leise und zog schließlich ein Kochbuch nach dem anderen aus dem Regal.
»Na endlich!« Als die Kaffeemaschine schwieg, hatte Karina ein schwarzes Heft gefunden, aus dem einzelne Blätter hervorlugten. Sie wollte die übrigen Bücher schon zurück ins Regal stellen, da entdeckte sie hinten in der Ecke ein weiteres Heft. Es sah aus wie die Kladde ihrer Großmutter. Karina schlug es auf. Es hatte das gleiche Register wie das Heft der Großmutter, allerdings lagen keine Zettel zwischen den Seiten.
Karina nahm ihren Kaffee und beide Hefte mit ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Kamin. Sie schlug das Heft auf, aus dem die Blätter hervorsahen. ›Anna Niehoff‹ las sie auf der ersten Seite. ›Niehoff‹ war mit Bleistift durchgestrichen, daneben stand ›Bessling‹. Die losen Zettel waren Rezepte, die ihre Großmutter nicht mehr abgeschrieben hatte.
Das war das Rezeptbuch ihrer Oma, daran hatte Karina keinen Zweifel. Sie suchte unter A und fand an dritter Stelle das Rezept für die Anisplätzchen. Rasch blätterte sie weiter zu M. Sie lächelte, als sie ihre eigene Schrift dort entdeckte. Wehmütig dachte sie an den Tag, an dem sie ihre Hinweise für die Zubereitung von Maultaschen in das Heft eingetragen hatte.
Karina schob den Gedanken weg und legte das Heft ihrer Großmutter beiseite. Keine der Schriften in der Kladde glich der auf den Postkarten. Sie nahm das zweite Heft zur Hand. ›Katharina Bessling‹, stand in Druckbuchstaben auf der Innenseite des Umschlags. Das Heft klappte von allein in der Mitte auf.
Karinas Blick fiel auf das erste Rezept auf der Seite. »Kreplach«, las sie und kam sich vor, als wäre sie wieder in der ersten Klasse und müsste einen Buchstaben nach dem anderen entziffern. Das Wort war in dieser alten deutschen Schrift verfasst wie die Postkarten. Allerdings war Karina dieses Wort völlig fremd, sodass es ihr schwerfiel, es zu entziffern.
»Kreplach«, sagte Karina laut. Noch immer kam es ihr vor, als hätte sie einen Buchstaben falsch gelesen. Die Zutaten für das Rezept konnte sie ohne Probleme entschlüsseln. »Mehl, Eier, Olivenöl, Salz«, las sie halblaut. »Das hört sich an wie ein Pastetenteig. Und eine Füllung aus Rinderhack gibt es auch. Lecker.« Sie nahm sich vor, später im Internet nach der Bedeutung des Wortes zu suchen. Viel mehr als das Rezept interessierte sie die Handschrift. Sie nahm eine
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