Brasilien: Ein Land der Zukunft
in den napoleonischen Kriegen in die schlimmste Lage geraten, die es im Kriege gibt: zwischen Hammer und Amboß. In dem erschöpfenden Ringen der beiden Giganten Napoleon und England wäre das kleine Land naturgemäß gewillt, abseits und neutral zu bleiben.
Aber wenn die Gewalt ein Jahrhundert regiert, ist für Friedwillige kein Raum; sowohl Frankreich, das Portugals Häfen will, als auch England, das sie gegen die Kontinentalsperre benötigt, fordern Entscheidung. Und diese Entscheidung ist fürchterlich verantwortungsvoll für König João VI. Napoleon beherrscht den Kontinent, England beherrscht die See. Widerstrebt der König Napoleons Forderung, so marschiert Napoleon ein, und dann ist Portugal verloren. Widerstrebt er England, so sperrt England das Meer, und er verliert Brasilien. Angesichts dieser unerbittlichen Wahl, ob Lissabon vom Lande aus durch Napoleon oder von der See her von den Engländern bombardiert werden solle, bilden sich am Hof zwei Parteien, die pro-französische und die pro-englische. Der König schwankt, und in seinem Schwanken wird ihm zum erstenmal bewußt, was Brasilien in drei Jahrhunderten geworden ist: das kostbarste Gut seiner Krone und längst nicht mehr eine bloße Kolonie. Er ahnt, daß es in Hinkunft vielleicht mehr Reichtum, Macht und Weltstellung bedeuten wird, Brasilien sein eigen zu nennen als Portugal; zum erstenmal schwankt in der Waagschale Portugal zu Brasilien gleich zu gleich.
In letzter Stunde fällt das Haus Braganc̣a, als Napoleon 1807 das Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein Weltumsturz mußte kommen, damit zum ersten Mal in drei Jahrhunderten irgend ein Angehöriger des Hauses Braganc̣a und nun sogar sein König in persona den Boden Brasiliens betritt.
Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den »Imperador do Brasil« [Kaiser von Brasilien], denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, der Banco do Brasil, Ministerien eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen, Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der Reinos Unidos [der Vereinigten Königreiche]; Portugal und Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die anderen südamerikanischen Staaten schwere Blutopfer gekostet, diesem bevorzugten Lande zunächst erspart; Brasilien kann die europäische Unruhezeit geruhig nutzen, um seine Grenzen langsam zu konsolidieren. Längst – 1750 – sind die alten Einschränkungen des Vertrages von Tordesillas für ungültig erklärt worden. Weit nach Westen, den ganzen Lauf des Amazonas entlang, erstreckt sich das neue Königreich in die Tiefe; im Süden ist Rio Grande do Sul dazugewonnen, im Norden die lang umkämpfte Grenze bis nach Guiana hinaufgerückt, und die gute Gelegenheit, daß Europa auf Kongressen beschäftigt ist, verlockt Dom
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