Brasilien: Ein Land der Zukunft
seine wirtschaftliche Selbständigkeit verhindert werden. Während Nordamerika längst frei sein Schicksal bestimmt, darf Brasilien noch keine Waren erzeugen außer seinen Fertigprodukten. Es darf keine Stoffe weben, sondern soll sie auf dem Umweg über das Mutterland beziehen, es darf keine eigenen Schiffe bauen, damit einzig die portugiesischen Reeder verdienen. Für geistige Menschen, für Techniker, für Industrielle soll dort kein Raum sein und kein Tätigkeitsfeld. Kein Buch darf dort gedruckt werden, keine Zeitung veröffentlicht, und mit den Jesuiten nimmt man ihnen noch die einzigen, die dort ein wenig Bildung verbreiten. Nur keinen selbständigen ökonomischen Aufstieg, nur keine freie Verbindung mit den Weltmärkten! Brasilien soll Sklavenland bleiben, Fronland, abhängige Kolonie, und je unselbständiger, je ungeistiger, je unnationaler, desto besser. Jede Regung der Unabhängigkeit wird gewaltsam niedergeschlagen. Und die portugiesischen Truppen, die innerhalb Brasiliens stehen, haben längst nicht mehr wie einst den Sinn, die Kolonie gegen äußere Feinde zu schützen – denn dies vermöchte das Land längst aus eigener Kraft – , sondern einzig die königliche Wirtschaftskaserne gegen das eigene Land zu bewachen.
Aber immer wiederholt sich das gleiche Phänomen in der Geschichte; was in Jahren und Jahren an Vernunft und Gleichgültigkeit versäumt wird, erzwingt dann die brutale Gewalt in einer einzigen Stunde. Es ist groteskerweise Napoleon, der Welttyrann Europas, der dieses amerikanische Land befreit. Denn indem er den König von Portugal durch den blitzartigen Vormarsch seiner Truppen zwingt, seine Residenzstadt Lissabon in überstürzter Flucht zu verlassen, zwingt er ihn auch, zum erstenmal das Land in Augenschein zu nehmen, das ihm seine Paläste gebaut und seiner Krone, seinem Lande durch Jahrzehnte und Jahrhunderte der treueste Helfer gewesen. Statt der Zolleinnehmer und der Gendarmerie erscheint nun zum erstenmal mit seinem ganzen Hof, dem Adel und der Geistlichkeit ein Angehöriger des Hauses Braganc̣a, der König João VI., in seiner Kolonie.
Aber das neunzehnte Jahrhundert wird keine Kolonie Brasilien mehr kennen; König João bleibt keine andere Wahl, als das Kind, das ihn, den Geflüchteten, den kläglich Geschlagenen, in seine Arme nimmt und aufrichtet, feierlich für mündig zu erklären. Unter dem Titel der Vereinigten Königreiche wird Brasilien Portugal gleichgestellt, und für zwölf Jahre liegt die Hauptstadt dieses Doppelkönigreichs nicht am Tejo mehr, sondern in der Bucht von Guanabara. Mit einem Schlage sind die Schranken gefallen, die Brasilien vom Welthandel bisher abgeschlossen haben, vorbei ist die Zeit der Erlaubnisse und Verbote und strengen Dekrete. Fremde Schiffe dürfen seit 1808 hier landen, Waren ausgetauscht werden, ohne daß der Tribut abgeliefert werden müßte an die Tesouraria jenseits des Meers. Brasilien darf arbeiten und produzieren, darf sprechen und schreiben und denken, und so kann mit der wirtschaftlichen endlich auch die lange gewaltsam zurückgehaltene kulturelle Entwicklung beginnen. Zum erstenmal seit der flüchtigen Episode der holländischen Besetzung werden Gelehrte, Künstler, Techniker von hohem Rang ins Land berufen, um hier den Aufbau einer eigenen Kultur zu fördern. Völlig unbekannte Dinge wie Bibliotheken, Museen, Universitäten, Kunstakademien, technische Schulen werden eingerichtet und dem Lande volle Freiheit gegeben, seine Sonderpersönlichkeit im Kulturkreis der Welt zu zeigen und zu bewähren.
Aber wer einmal das Gefühl der Freiheit kennen und lieben gelernt hat, der hält dann nicht mehr ein, ehe er nicht die volle, die schrankenlose Freiheit erlangt. Selbst dies gelockerte Band, das das neue Königreich mit dem alten jenseits des Ozeans verbindet, empfindet es als Hemmung und Bedrückung. Und erst, wie es sich 1822 selber zum Königreich krönt, beginnt seine wahre Unabhängigkeit.
Oder vielmehr, sie könnte beginnen. Denn nur im politischen Sinne gelingt es Brasilien, sich seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht aber im wirtschaftlichen. Im Gegenteil, bis tief in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gerät Brasilien eigentlich in schwerere ökonomische Abhängigkeit von England und den anderen Industriestaaten, als es vordem von Portugal gewesen. Brasilien hat – in seiner Entwicklung gehemmt durch die Verbote Lissabons – die industrielle Revolution verschlafen, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unsere
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