Brasilien: Ein Land der Zukunft
sie geschaffen haben. Die Ära des Holzes, des Zuckers und Cotons hat den Norden besiedelt. Sie hat Bahia geschaffen, Recife, Olinda, Pernambuco und Ceará. Minas Gerais ist besiedelt worden durch das Gold. Rio de Janeiro wird seine Größe der Umsiedlung des Königs mit seinem Hofe danken, São Paulo seinen phantastischen Aufstieg dem Imperium des Kaffees, Manaus und Belém ihre plötzliche Blüte dem rasch ablaufenden Zyklus des Gummis, und noch wissen wir die Lage der Städte kaum, die der nächste Umschwung, die Erzgewinnung, die Industrie zu plötzlichem Wachstum bringen wird.
Dieser Prozeß der Gleichgewichtsverteilung, der noch heute in vollem Gang ist – denn der Brasilianer ist dank seiner dunklen Erbschaft besonders beweglich von Natur – und der dauernd gefördert wurde durch eine ständige Zumischung von erst der afrikanischen, dann der europäischen Immigration, hat verhindert, daß der organische Ausbreitungsprozeß jemals völlig ins Stocken geraten ist. Er hat eine allzu stabile soziale Schichtung verhindert, und statt des partikulären Elements das nationale stärker herausgearbeitet. Man hört noch hie und da sagen, daß dieser von Bahia stammt und jener aus Porto Alegre, aber bei näherer Nachfrage erfährt man, daß Vater oder Mutter fast immer von anderer Herkunft sind; dank dieser ständigen Transfusion und Transplantation hat sich dieses Wunder der brasilianischen Einheitlichkeit bis auf den heutigen Tag gerettet, wo durch die gesteigerten Verbindungsmöglichkeiten die bindenden Kräfte des Radios und der Zeitung eine nationale Zusammenfassung viel selbstverständlicher machen. Während das spanisch-südamerikanische Reich, das weder räumlich noch an Menschenanzahl dem ehemaligen portugiesischen Kronland überlegen ist, schon im Grundplan durch die Aufteilung in einzelne Gouverneursbezirke die Sonderheiten Argentiniens, Chiles, Perus, Venezuelas in dialektischen Formen, in Sitte und Habitus schärfer herausarbeitet, bereitete die zentralistisch geführte Regierungsform Brasiliens schon von Anfang an eine völlig einheitliche ökonomische und nationale Form vor, die, weil früh und organisch in der Seele des Volkes verankert, auch im wirtschaftlichen Sinne nicht mehr zu zerstören war.
Versucht man für die Epoche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Bilanz von Soll und Haben aufzustellen zwischen der Kolonie und dem Mutterland, zwischen Brasilien und Portugal, so findet man ein vollkommen verändertes Bild. Von 1500 bis 1600 ist Brasilien der nehmende, Portugal der gebende Teil: es muß Beamte und Schiffe, Waren und Soldaten, Kaufleute und Kolonisten hinüberschicken, und seine weiße Bevölkerungszahl übertrifft um das Zehnfache die junge Kolonie. Um 1700, also zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, dürfte die Waage auf gleich schwanken und sich eher zu Gunsten Brasiliens überneigen. Um 1800 hat sich die Proportion schon in phantastischer Weise verändert. Portugal mit seinen 91 000 Quadratkilometern erscheint winzig neben dem Land, das achteinhalb Millionen desselben Maßes umfaßt. Allein an schwarzen Sklaven beherbergt es mehr als Portugal mit all seinen Untertanen; an wirtschaftlicher Kraft ist das amerikanische Reich nicht mehr zu vergleichen mit dem verarmten, in ökonomischen Marasmus [Kräfteverfall] immer tiefer verfallenden europäischen Heimatland. Mit viel Gold oder wenig Gold, mit seinen Diamanten, seinem Zucker, seiner Baumwolle, seinem Tabak, seinem Viehstand, seinen Erzen und nicht zuletzt seinen von Jahr zu Jahr gewaltig wachsenden Arbeitskräften hat es sich längst von jeder Hilfeleistung emanzipiert. Das Kind erhält jetzt die Mutter und nicht mehr die Mutter das Kind. Beim Erdbeben von Lissabon schickt Brasilien nicht weniger als drei Millionen Cruzados zum Aufbau als Geschenk hinüber, und vermögend ist in Portugal nur mehr, wer Besitz hat in Brasilien oder Handel treibt mit seinen Häfen und Städten. Wie eine Welt steht Brasilien neben der »pequena casa Lusitana« [neben dem kleinen Haus Lusitanien].
Aber je kräftiger, je männlicher, je aufrechter Brasilien sich entfaltet, um so sichtlicher verrät das Mutterland die Sorge, sein allzu kräftig geratenes Kind könnte eines Tages seiner Obhut entlaufen. Immer wieder versucht es, das schon selbständig handelnde, selbständig denkende, selbständig wirkende Wesen, als ob es noch unmündig wäre und am königlichen Gängelband geführt werden müßte, in die Gehschule einzuschließen. Mit Gewalt soll
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