Brasilien: Ein Land der Zukunft
ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet. Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen Landes dar.
Über dieser im Dunkel verstreuten und amorphen Masse, die – großenteils analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt – bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend, die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation [Zurschaustellung], diese Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos, weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt. Es ist fast immer ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierat sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers – immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten; gemeinsam wird der Beruf, das Studium des Einzelnen bestimmt. In der Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die Kinder dem Vater die
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