Brasilien: Ein Land der Zukunft
und Zahl, in Tier- und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.
Es ist also keine Frage: wie aus der Erde selbst noch lange nicht alle potentiellen Werte, so hat auch die große Masse Brasiliens aus sich noch nicht hundertprozentig herausgeholt, was in ihr an Begabung, an Arbeitskraft, an aktiven Möglichkeiten steckt. Aber im ganzen gesehen, ist in Anrechnung der klimatischen Hemmungen, der körperlichen Feinorganisiertheit die Leistung eine äußerst respektable, und man zögert nach den Erfahrungen der letzten Jahre, ein allfälliges Manko an Ungeduld und Impetus, ein Es-nicht-allzu-eilig-Haben mit dem Vorwärtskommen, einen Fehler zu nennen. Denn es ist eine Frage weit über das brasilianische Problem hinaus, ob das friedliche, sich selbst bescheidende Leben von Nationen und Individuen nicht wichtiger ist als der übersteigerte, überhitzte Dynamismus, der eine gegen die andere zum Wettkampf und schließlich zum Kriege treibt, und ob bei dem hundertprozentigen Herausholen aller seiner dynamischen Kräfte nicht etwas im seelischen Erdreich des Menschen durch dieses ständige »doping«, diese fiebrige Überhitzung eintrocknet und verdorrt. Der kommerziellen Statistik, den trockenen Zahlen der Handelsbilanz steht hier etwas Unsichtbares als der wahre Gewinn gegenüber: eine unverstörte, unverstümmelte Humanität und ein friedliches Zufriedensein.
Diese erstaunliche Genügsamkeit der Existenzform charakterisiert die ganze untere Schicht dieses Landes, und es ist eine ungeheure Schicht, eine dunkle und unabsehbare Masse, die bisher statistisch in ihrer Zahl oder in ihren Lebensbedingungen nie vollkommen erfaßt werden konnte. Wer in großen Städten lebt, begegnet ihr kaum. Sie ist nicht gesammelt wie etwa die amerikanische, die europäische Masse der Besitzlosen in Fabriken oder Arbeitsstätten, und man kann sie eigentlich nicht Proletariat nennen, weil diesen versteckten und über das Land hin verstreuten Millionen jede Bindung untereinander fehlt. Die »caboclos« [Halbindianer] des Amazonas, die »seringueiros« [Gummiarbeiter] in den Wäldern, die »vaqueiros« [Viehhirten] auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit Hunderten Jahren hat sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und Boden einen solchen non-valeur [eine Investition, die keine Rendite abwirft] dar, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet, immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen – allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen [der ständigen] Armut ganzer Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer normalen Leistung nicht fähig
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