Luegenherz
1. Ally
Ferdi kommt tatsächlich immer näher zu mir her. Ich halte kurz die Luft an und drücke mir die Daumen. Wann immer ich ihn sehe, möchte ich zu ihm hinrennen und mich in seine Arme werfen. Natürlich unterdrücke ich diesen Impuls, denn ich fürchte, in seinen Augen wäre das ungefähr so passend, als ob Berta von »Two and a Half Men« Brad Pitt anbagggern würde. Allerdings sehe ich doch etwas besser aus als Berta und jünger bin ich natürlich auch. Aber selbst wenn ich traumschön und sozial kompatibel wäre und jederzeit über jeden Mist süß lächeln könnte, bliebe ich in meiner Berufsschulklasse trotzdem ein Alien. Ich habe anfangs alles versucht, um das zu ändern – allerdings ohne Erfolg, und deshalb muss ich damit leben, dass mich alle wie eine Außerirdische behandeln.
Wenn die wüssten, dass ein Blick von Ferdi genügt, um mein Herz ins Stolpern zu bringen, fänden sie mich sicher noch merkwürdiger. Denn Ferdi ist alles, was ich nicht bin: beliebt und sportlich und schlecht in der Schule. Aber ich kann’s nicht ändern, er gefällt mir trotzdem und deshalb habe ich mir etwas ausgedacht, in der Hoffnung, ihn so endlich kennenlernen zu können.
Ich suche seine Augen und sein besonderes Lächeln, das jedes Mal irgendwelche Schalter in meinem Hirn umlegt und dafür sorgt, dass mein Puls, meine Atmung schneller werden und mich in meinem Bauch merkwürdige Engelswesen mit den Flügeln kitzeln. Und ich wundere mich ständig, dass dieses Lächeln nicht alle umhaut. Es ist ein bisschen spöttisch, ein bisschen geheimnisvoll und ein bisschen, als hätte er gerade etwas unfassbar Süßes gegessen – kurzum einfach der Hammer.
Ich habe versucht, einen Anhänger aus Silber zu schmieden, der den Zauber seines Lächelns widerspiegelt, aber unser Lehrer, der eingebildete Landgraf, meinte dazu hämisch, das sei keineswegs die Essenz eines Lächelns, sondern bloß ein lächerlicher Haufen Silber. Zum Glück wissen weder der Landgraf noch Ferdi von meinen unmöglichen Fantasien, ich würde mich sonst zum Gespött der ganzen Schule machen.
Er kommt noch näher zu mir. Ich bin so gespannt, was er sagen wird. Die anderen starren schon zu uns her. Ich kann sie geradezu tuscheln hören – Ferdi spricht mit dem Alien. Dabei habe ich es letzte Woche nur knapp überlebt, ihn zu fragen, ob er nicht das Model für meinen neuen Silberschmuck sein möchte. Ich muss Fotos für einen Wettbewerb machen und ich hoffe, er kommt jetzt zu mir, um Ja zu sagen, auch wenn die Chancen dafür mehr als schlecht stehen.
»Hallo, Ferdi«, sage ich und finde, dass es für meine Verhältnisse echt locker klingt.
»Hi, Ally. Du, machen wir’s kurz, das wird nichts. Ehrlich gesagt finde ich deinen Schmuck ziemlich, ähh, entschuldige, scheußlich. Sorry, du.«
Mir wird ganz komisch. Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Das Wort scheußlich hallt in meinen Ohren, während er dasteht und so wundervoll lächelt wie immer.
»Oh, ja, tut mir leid«, antworte ich. Spinnst du, Ally, tut mir leid, was ist das denn für ein Mist? Sag ihm, wie gemein das gerade war!
Jetzt hebt er den Blick und starrt mich geringschätzig an. »Ich weiß nicht, was dich auf die Idee gebracht hat, dass ich mich mit diesem abscheulichen Zeug fotografieren lassen würde.«
Das laute Hämmern in meinen Ohren muss schuld daran sein, dass ich ihn merkwürdige Sachen sagen höre.
»Was?«
»Mehr hab ich dazu nicht zu sagen. Und noch was, Ally: Bitte lass mich in Zukunft einfach in Ruhe. Meine Freundin mag es nicht, wenn du mich immer so anstarrst. Du bist echt peinlich.«
Ich gerate ins Taumeln, das war entschieden eine Keule zu viel.
»Aber, aber …« Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu heulen, aber meine Augen füllen sich trotzdem mit Tränen. Reiß dich zusammen, Ally!
»Tut mir wirklich leid«, stammle ich und renne vom Schulhof in unser Klassenzimmer. Dort lasse ich mich auf meinen Platz fallen und versuche, mich zu beruhigen, doch in meinen Ohren rauscht es und ich höre immer wieder Ferdis Stimme: abscheulich, abscheulich, abscheulich.
Landgraf kommt zusammen mit den anderen rein und hält wie immer Vorträge, aber ich bin nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Obwohl ich die ganze Zeit wusste, wie lächerlich meine Hoffnungen waren, hatte ich mir doch so sehr gewünscht, dass ihm meine Sachen gefallen. Und dass er mich dann in meiner Werkstatt besucht und entdeckt, dass ich die Frau seines Lebens bin …
Okay, Ally,
Weitere Kostenlose Bücher