Brasilien
Teller übrig. Sie schob ihren eigenen, noch halbvollen Teller auf dem niedrigen Intarsientisch zu ihm hin. Er aß auch ihn noch leer.
«Kaffee?» fragte Maria, als sie zum Abräumen kam. Sie strahlte jetzt weniger Mißgunst aus, dafür einen leicht verschwörerischen Duft wie nach dendê -Öl, das der Küche des Nordens ihr Aroma verleiht. Vielleicht war irgend etwas faul an diesem seltsamen Haushalt aus einem jungen Mädchen und dessen Onkel, etwas, das der Haushälterin mißfiel. Sie war, wie es die niedrig Geborenen sind, offen für das Unheil und den Wandel; die Welt ist für sie keine kostbare Reliquie unter Glas, die unverändert erhalten werden muß.
«Ja, und dann laß uns allein», sagte Isabel. Sie hatte ihr Hütchen abgenommen und ihr langes, blond schimmerndes Haar unterstrich ihre Nacktheit, gab ihm das Gefühl der Blendung wieder, das er empfunden hatte, als er mit schmerzenden Augen aus dem Ozean gestiegen war.
«Magst du mich?» fragte sie und wurde rot und schlug die Augen nieder.
«Ja. Mehr als das.»
«Hältst du mich für eine Draufgängerin? Für ein schlimmes Mädchen?»
«Ich halte dich für ein reiches Mädchen», erwiderte er, wobei er sich umsah, «und Reichtum macht die Leute komisch. Die Reichen können tun, was sie wollen, und daher kennen sie den Wert der Dinge nicht.»
«Aber ich bin nicht reich», sagte Isabel in einem neuen, mürrisch-gereizten Tonfall. «Mein Onkel ist reich und mein Vater auch, der weit weg in Brasília sitzt, aber mir selbst gehört überhaupt nichts – sie halten mich wie eine Sklavin im goldenen Käfig, die eines Tages, sobald die Nonnen mir das Abschlußzeugnis ausgestellt haben, mit einem jungen Mann verheiratet werden wird, der genauso ist wie sie, genauso aalglatt und höflich und gefühllos.»
«Wo ist deine Mutter? Wie denkt sie über deine Zukunft?»
«Meine Mutter ist tot. Der kleine Bruder, den sie mir schenken wollte, hat sich auf dem Weg nach draußen mit der Nabelschnur erdrosselt, und in seinem Todeskampf hat er ihr die Gebärmutter zerfetzt. So hat man mir das jedenfalls erzählt. Ich war vier, als es passierte.»
«Wie traurig, Isabel.» Er hatte ihren Namen von Eudóxia gehört, aber nun gebrauchte er ihn zum erstenmal. «Du hast keine Mutter, und ich habe keinen Vater.»
«Wo ist dein Vater?»
Tristão zuckte die Achseln. «Vielleicht ist er tot. Aber bestimmt ist er auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Meine Mutter hatte viele Männer und weiß nicht genau, welcher davon er war. Ich bin neunzehn, also liegt es zwanzig Jahre weit zurück. Sie trinkt viel cachaça und kümmert sich um nichts.» Trotzdem hatte sie ihm einmal die Arznei besorgt, die er brauchte. Sie hatte ihn gestillt und Läuse von seinem Kopf geklaubt und in seiner Scheiße nach Würmern gesucht.
Um ihn zu sich zurückzurufen, verkündete Isabel: «Ich bin achtzehn. Noch.»
Er lächelte und wagte es, die Hand auszustrecken und ihre leuchtenden Haare zu berühren, die voller kleiner Lichter waren, wie Rio bei Nacht, wenn man vom Zuckerhut hinunterblickte. «Wie schön. Ich würde dich nicht älter oder reicher wollen.»
Sie duldete seine Berührung, ohne zurückzuweichen, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. «Du hast mir diesen Ring geschenkt.» Sie hielt die Hand empor, an deren dickstem Finger das Oval aus Messing steckte. «Jetzt muß ich dir auch etwas schenken.»
«Das ist nicht nötig.»
«Das Geschenk, das ich im Sinn habe, wäre auch ein Geschenk für mich selbst. Die Zeit ist reif. Die Zeit in meinem Leben ist da.»
Sie stand vor ihm und reckte ihre Lippen gegen die seinen, weniger ein Kuß als die Imitation von Küssen, die sie im Fernsehen oder in Illustrierten gesehen hatte. Ihr bisheriges Leben hatte darin bestanden, die Geschichten anderer Menschen zu verfolgen. Jetzt erschuf sie sich ihre eigene Geschichte. Sie führte ihn zu einer Wendeltreppe aus sandig rot gestrichenem Metall, die ins Obergeschoß hinaufführte. Ihr Körper erschien ihm, als sie sich vor und über ihm hinaufschraubte, perspektivisch verkürzt und in Scheiben geschnitten, schmale Dreiecke aus Fleisch, die halb verdunkelt zwischen den Dreiecken der Treppenstufen aufblitzten. Mit einem Finger spielerisch über das Geländer gleitend wie über eine Wasseroberfläche, lief Isabel die Galerie entlang, die sich in Höhe des schlangenarmigen Kronleuchters an der Wand erstreckte, und bog von dort in ein Zimmer ein, das ihr Zimmer war, noch voller Plüschtiere aus ihren
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