Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
Wasserfall vorbei, der so ohrenbetäubend braust, daß man nicht miteinander reden kann. Dann über ein Stück kahlen Felsen hinweg, gleich darauf kommt der Augenblick, wo es in der Trosse „knack“ macht, so daß alle, die zum erstenmal mitfahren, ein erschrecktes „Oh!“ ausstoßen. Und endlich liegt die weiße Fläche vor uns, wir sehen den ewigen Schnee.
Nun schweben wir, nachdem es noch ein paarmal geknackt hat, ins Stationsgebäude hinein, wo uns Maros Großvater, der freundliche alte Carlo, aus den Kabinen hilft.
Die Bahn zur Aiguille d’Argent ist sozusagen ein reines Familienunternehmen - das heißt: Besitzer ist wohl der Staat oder vielleicht die Gemeinde, aber Großvater Carlo und Enkel Maro halten die Bahn in Ordnung.
Ich zeigte Corinne alles und erklärte es ihr. Uns gegenüber in der Kabine saßen zwei junge Italiener; ab und zu ging ich auf Italienisch über und erklärte es auch ihnen. Wieder seufzte Corinne auf und beneidete mich um meine Sprachkenntnisse.
„Ich kann ein wenig Deutsch“, sagte sie. „Aber wenn ich daran denke, daß ich später einmal hier in diesem Sprachengewirr Hotelwirtin werden soll, wird mir schwindlig.“
„Will also Tony das Hotel übernehmen?“ fragte ich.
„Selbstverständlich will er das. Er wird es wohl wie sein Vater machen, glaube ich: vom Hotel will er leben und in seiner freien Zeit malen.“
Unter uns sahen wir jetzt den Pfad, der zum Berg hinaufführt. In diesem Augenblick tauchte gerade Franz mit seinen beiden Maultieren auf. Ich erzählte Corinne, daß er seit zwanzig Jahren jeden Sommer die gleichen Wege ging und Verpflegung, Getränke und Geräte aller Art auf die Hütten oben in den Bergen brachte.
Jeder Bissen Brot und jede Gulaschportion, die man in der Steinbockhütte, in der Goldkammhütte und in der Firnhütte zu essen bekommt, wird auf Maultierrücken hinaufgebracht.
Nur die Cabane d’Argent, die Silberhütte, erhält ihren gesamten Nachschub mit der Seilbahn. Denn die Silberhütte liegt nur zehn Schritt von der Endstation entfernt. Auf dem Speicher der Silberhütte hat der alte Carlo eine Kammer, in der er den ganzen Sommer hindurch wohnt, damit er gleich bei seiner Arbeitsstelle ist. Wenn abends die letzte Kabine nach unten unterwegs ist, telefoniert er: „Da kommen Leute mit Nummer vier, und jetzt machen wir Schluß für heute.“ Dann schließt er alles ab, während die Kabine Nummer vier in der Dunkelheit hinunterschwebt, geht in die Silberhütte hinüber und ißt einen Teller Suppe, bevor er sich zu Bett legt.
Das erzählte ich Corinne. Und dabei schwebten wir unter das Dach der Endstation, wo das Gesicht des alten Carlo aufstrahlte, als er mich erblickte.
„Jetzt ist der Sommer nach Villeverte gekommen, wenn Bernadette da ist!“ rief er lächelnd. „Warum bleibst du nicht immer hier, Bernadette? Ja, vielleicht - jetzt ist Tony doch ein erwachsener Mann und.“
„Carlo“, unterbrach ich ihn, „diese Dame mußt du unbedingt kennenlernen. Sie heißt Corinne und ist mit Tony verlobt. Und Carlo mußt du ganz besonders gern haben, Corinne. Ohne ihn hättest du deinen Tony nicht. Denn Carlo war es, der ihn in letzter Sekunde erwischte, als er sich auf das Dach einer Kabine schleichen wollte, um kostenlos mit der Bahn zu fahren.“
„Und niemals zuvor hat ein Junge in Villeverte solche Prügel bezogen wie damals Tony“, schmunzelte Carlo. Meine Worte hatten ihm Zeit gegeben, sich über die Bedeutung der Nachricht klarzuwerden und sie zu verdauen. Er richtete seine alten, klugen Augen auf Corinne, und ich stellte fest, daß er äußerst zufrieden nickte.
„Willkommen in Villeverte, Mademoiselle. Und meinen herzlichen Glückwunsch! Ja, ja, die Zeit vergeht. Will der kleine Tony also heiraten. Und du, Bernadette? Was ist mit dir? Hast du vielleicht einen Freund dort oben in deinem kalten Eisbärland?“
„Wer weiß?“ rief ich lachend. „Aber wie oft soll ich dir noch sagen, Carlo, daß es in Norwegen ebensowenig Eisbären gibt wie in den Alpen. - Achtung - da kommt schon die nächste Kabine! Paß nur auf, daß deine Passagiere nicht im gleichen Schwung wieder hinunterfahren!“ Corinne und ich gingen in die Silberhütte hinein und fanden einen Tisch an einem Fenster. Sie war von der Aussicht überwältigt. Sie war mitten in Paris aufgewachsen und hatte niemals Berge gesehen. Ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter hatte ein Parfümeriegeschäft, in dem auch Corinne arbeitete, wenn sie nicht gerade malte - „oder ich
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