Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
dann ging es nach Norden.
Aber dieser Sturz war nicht gut.
Kurz bevor der Zug in den Simplontunnel einfuhr, wurde nach dem Zugbegleiter gerufen, nach einem Arzt - oder befand sich vielleicht eine Krankenschwester oder noch besser eine Hebamme unter den Fahrgästen?
Und als der Zug auf der anderen Seite aus dem Simplontunnel hinausfuhr, hatte er einen Passagier mehr als bei seiner Einfahrt.
Der Passagier - war ich.
In der ganzen Aufregung hatte niemand auf die Uhr geblickt, und so hatte sich niemand gemerkt, ob das große Ereignis auf der italienischen oder auf der Schweizer Seite der Grenze vor sich gegangen war.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde ich in der Schweiz geboren. Mit Sicherheit weiß das jedoch niemand.
Die ersten zwei Wochen meines Lebens verbrachte ich in einer Klinik in Lausanne, und dann ging es weiter nach Heirevik in Norwegen. Dort wartete Großmutter mit rotgeweinten Augen und einem Telegramm.
Bernardo Bonassi war abgestürzt und auf der Stelle tot.
Wäre ich ein Junge gewesen, hätte mich meine Mutter bestimmt Bernardo genannt. Nun wurde daraus also Bernadette, und dieser Name verwandelte sich sehr schnell in Benny. Denn erst eine Reihe von Jahren später wurde der Name Bernadette durch Franz Werfels Buch über Bernadette von Lourdes weltberühmt.
Die Verzweiflung und der Kummer meiner Mutter verloren jedoch im Vergleich zu dem, was einige Monate später geschah, an Bedeutung. Denn da brach der Krieg aus. Meine Mutter und ich blieben in Norwegen, und ich war sieben Jahre alt, bevor ich die Familie meines Vaters kennenlernte.
Von meinem dritten Lebensjahr an hatte Mutti italienisch mit mir gesprochen - sie selber hatte sich mit Hilfe von Büchern, Schallplatten und Sprachenschule weitergebildet. Sie wollte, daß ich die Sprache meines Vaters beherrschte.
Und so reisten meine Mutter und ich eines Tages im Frühsommer durch halb Europa und über fünf Ländergrenzen zu den Eltern meines Vaters, die so lange darauf gewartet hatten, ihr einziges Enkelkind zu sehen. Tante Cosima in Villeverte hat keine Kinder.
Kinder lernen schnell. Ich war knapp eine Woche bei meinen Großeltern, da plapperte ich italienisch, was das Zeug hielt, lief, meine Hand in Großvaters Hand, überall auf dem Hof herum, streichelte alle Tiere und lernte die Nachbarn und ihre Kinder kennen. In der Küche stopfte mir die Großmutter - oder Grand’mere, wie ich sie immer nannte - alle möglichen Leckerbissen in den Mund, und ich wurde nach Strich und Faden verwöhnt.
Das war der erste einer ganzen Reihe von Besuchen in Norditalien. Jeden Sommer reisten wir los, sozusagen gleich von der Schulfeier zum Zug. Nach Hause kamen wir gerade noch so rechtzeitig, daß ich am ersten Schultag nach den Ferien meinen Platz einnehmen konnte.
Mein Vater hatte gut verdient, und seine Eltern hatten seine Hinterlassenschaft getreulich verwaltet. Plötzlich konnten Mutti und ich uns etwas leisten. Diese alljährlichen Reisen durften wir uns erlauben, ohne uns deswegen Vorwürfe machen zu müssen. Außerdem hatte Mutti ihre sicheren Einnahmen als Turn- und Handarbeitslehrerin. Und sie hatte ebenso wie ich die gesegnet langen Ferien.
Als ich zwölf Jahre alt war, starb mein Großvater, und Grand’mere zog auf die andere Seite der Grenze nach Villeverte zu Tante Cosima. Der Hof in Norditalien wurde verkauft, und wieder floß Geld auf mein Bankkonto.
Noch immer reiste ich jeden Sommer nach Süden, aber von meinem fünfzehnten Lebensjahr an reiste ich allein. Ich fuhr zu Tante Cosima in Villeverte, lernte Französisch plappern und konnte mich auch auf deutsch verständlich machen. Denn in Villeverte reden alle Menschen alle Sprachen. Villeverte lebt von seinen
Touristen. Die Menschen, die ständig dort wohnen, haben nur im Oktober und November etwas Zeit zum Atemholen, und dann beginnt in allen Häusern das Großreinemachen. Sobald die Sommergäste verschwunden sind, wird repariert und gemalt und alles für die Wintergäste vorbereitet. Die übrige Zeit des Jahres strömen die Touristen nach Villeverte, die Hotels sind überfüllt, und jedes Haus nimmt Gäste auf. Auch bei Tante Cosima ist es so. Sie und Onkel Ferdinand besitzen ein „Chalet“ - ein großes Holzhaus mit sechs kleinen Wohnungen und einer etwas größeren. In der größeren Wohnung leben sie selber, die anderen sechs vermieten sie möbliert an Gäste. Und nicht nur möbliert, sondern mit Laken, Bettdecken, Küchentüchern und Geschirr ausgestattet - „alles vorhanden
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