Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
Zweieinhalb Muttersprachen
Ich habe drei Vaterländer und weiß nicht, wo ich geboren bin. Ich habe drei Muttersprachen oder jedenfalls zweieinhalb.
Ich heiße Bernadette Bonassi, und von Beruf bin ich Schneiderin.
Fast habe ich das Gefühl, daß ich es wie ein Kriminalschriftsteller mache: Zunächst einmal zählt er alles auf, was es an Geheimnisvollem gibt, wartet aber mit der Lösung bis zur letzten Seite.
So lange will ich freilich nicht warten, denn dies ist ja kein Kriminalroman. Es ist nur die einfache Schilderung eines glücklichen Sommers im Leben eines glücklichen jungen Mädchens.
Aber ich muß bei meinen Eltern anfangen. Meine Mutter war ein ganz normales, nettes norwegisches Mädchen in einer ganz normalen norwegischen Kleinstadt. Das einzig Ungewöhnliche bei ihr bestand darin, daß sie eine sehr gute Turnerin und Skiläuferin war. Für sie war der Turnverein alles, und zu der Zeit, als sie meinen Vater kennenlernte, war sie längst eine Spitzenturnerin.
Und dann trat jenes Ereignis ein, dem ich es verdanke, daß es mich überhaupt gibt.
In die Stadt kam ein Zirkus. Unter den Artisten befand sich ein italienischer Trapezkünstler, dessen Kunststücke allen Zuschauern den Atem verschlugen, sogar den Eliteturnern.
Als der Zirkus Weiterreisen sollte, setzte an der Küste dichter Nebel ein; jeder Verkehr wurde eingestellt, die Artisten gingen in Heirevik umher und langweilten sich. So kam es, daß der Trapezkünstler Bernardo Bonassi sich einverstanden erklärte, zum Jubiläumsfest des Turnvereins eine Vorstellung zu geben.
Und da geschah es auch, daß ein Paar braune italienische Augen einem blauen norwegischen Augenpaar begegneten. Was danach geschehen ist, weiß ich nicht so genau. Ich weiß nur, daß Ester Bruland einen schweren Kampf mit ihren Eltern durchzustehen hatte, bevor sie sich zögernd und händeringend damit einverstanden erklärten, daß Ester den italienischen Zirkusartisten heiratete.
Wahrscheinlich war es Bernardo Bonassis unwiderstehlicher Charme, der schließlich Esters Eltern gewann. Jedenfalls verließ sie eines Tages Heirevik und folgte ihrem Mann in seine Heimat, nach Norditalien.
Bestimmt fühlten sich die Eltern sehr erleichtert, als Ester schrieb und von ihrem neuen Heim erzählte. Sie war auf den Hof der Schwiegereltern gekommen, einem schönen Hof, auf dem alles durchaus normal vor sich ging und von der Welt der Artisten nichts zu spüren war. Es war ein kleiner, gut bewirtschafteter Bauernhof in Norditalien. Der Schwiegervater war ein heiterer, lebensfroher Mensch, und die Schwiegermutter, die aus Frankreich stammte, eine freundliche, herzensgute Frau.
In dieser Gegend Italiens war man so an Ehen mit Ausländern gewöhnt, daß Bernardos Entschluß gar kein besonderes Aufsehen erregte. Neu und seltsam war nur, daß ein blondes, blauäugiges Wesen auftauchte, das mit seinem Mann englisch sprach, Norwegisch als Muttersprache hatte und sich fleißig abrackerte, um Italienisch zu lernen. Im übrigen war die Grenze so nah, sowohl nach der Schweiz als auch nach Frankreich zu, daß es durchaus normal war, wenn die Bräute von Norden kamen oder die Mädchen auf die andere Seite der Grenze hinüberheirateten. Das hatte auch Bernardos Schwester getan, die nun in ihrem neuen Heim in der kleinen Stadt Villeverte im südlichen Wallis wohnte. Und Bernardos Mutter selber war also aus Frankreich gekommen.
Ein glücklicher Menschenschlag, heitere Menschen, die niemals etwas schwernahmen, solange es eine Möglichkeit gab, die Dinge leichtzunehmen. Über Bernardo hatten sie den Kopf geschüttelt, weil er es vorzog, von der Kraft seiner Muskeln und von seiner Gewandtheit zu leben, anstatt sich um den Hof seines Vaters zu kümmern. Graue Haare ließen sich die Eltern deswegen nicht wachsen. „Eines Tages bist du für diese Kunststücke doch zu alt“, meinte Vater Bonassi. „Dann wirst du schon nach Hause kommen und den Hof übernehmen!“
Doch einstweilen reiste Bernardo mit seinem Zirkus umher und kam nur ab und zu auf seinen Hof, um seine kleine, blonde Frau zu besuchen, die inzwischen ihre Schwiegereltern richtig lieb gewonnen hatte.
Als der Sommer nahte und Ester ein Kind erwartete, ihr Mann jedoch ein paar Monate lang in Frankreich auftreten sollte, gab sie den Bitten ihrer Eltern nach, nach Norwegen zu kommen und dort ihr Kind zur Welt zu bringen.
Sie bestieg den Zug, und ausgerechnet sie mußte dabei stolpern und hinfallen. Man half ihr wieder auf und zu ihrem Platz, und
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