Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
einen Extrapullover bekommen, und er hat ihr auch seine grünen Handschuhe angeboten, aber die hat sie striktabgelehnt. Schließlich haben sie sich darauf geeinigt, jeder einen Handschuh zu tragen. Und jetzt wirken sie ein bisschen wie die zwei Hälften einer Person.
Ich hatte gehofft, Alina würde mit Atemmaske nicht ganz so berauschend aussehen, aber im Gegenteil: Ihre großen Augen und ihre geschwungenen Brauen kommen jetzt fast noch mehr zur Geltung. Außerdem war sie so schlau, den Gummiriemen der Maske unter ihr langes Haar zu schieben, sodass dieses jetzt seitlich über die Maske fällt. Ich war nicht ganz so clever: Ich hab die Maske über meinen schwarzen Bubikopf gezogen und sehe obenrum wahrscheinlich aus wie ein schwarzer Pilz.
Ich war bisher nur einmal im Ödland, und zwar mit sieben, während eines Klassenausflugs. Ich erinnere mich noch, dass wir ausprobieren durften, wie sich das Atmen ohne Maske anfühlt. Die Lehrerin hat uns der Reihe nach die Maske vom Gesicht weggedreht und uns ermuntert, einzuatmen. Es war wie Feuerschlucken. Die Lehrerin hat lächelnd und nickend zugeschaut, wie ich nach Luft gerungen habe, und die Maske sogar noch weiter von mir weggehalten. Und erst als ich bleich wurde und fast ohnmächtig, hat sie sie mir wieder aufs Gesicht gesetzt und die Riemen festgezurrt. »Na, ist das nicht eine Erfahrung?«, war ihr einziger Kommentar gewesen. Ich hab mich immer nach dem Zweck dieses Ausflugs gefragt. Sollte er uns zeigen, wie bitter nötig wir die Kuppel brauchen? Uns einimpfen, dass Flucht keine Option ist? Umso mehr frage ich mich natürlich jetzt, was Alina wohl passiert ist, dass sie sich zu einem so drastischen Schritt entschlossen hat.
Hinter uns färbt der Sonnenaufgang den Himmel rosa. Würden die vier Recyclinganlagen nicht wie verrückt dampfen, könnte man die Kuppel fast für einen wunderschönen Berg im Dämmerlicht halten. In unmittelbarer Nähe der Kuppel ist die Landschaft wie leer gefegt. Aller Schutt wurde schon vor langer Zeit abgetragen. Erst jetzt sind wir weit genug entfernt, um allmählich auf Überreste der alten Welt zu stoßen – der Welt vor dem Switch. Wir sehen reihenweise verfallene oder eingestürzte Häuser und Straßen mit löchrigem, gesprungenem Asphalt. Überall verstreut stehen die Wracks alter Fahrzeuge, überwuchert von etwas, das wie Efeu aussieht.
Auch wenn es Winter ist und der Frost vermutlich alle Wurzeln abgetötet hat, ist die Erde nicht so unfruchtbar, wie ich sie mir vorgestellt habe. Nicht nur Efeu, auch Wildgräser und Moos bedecken die Ruinen. Ich versuche, möglichst wenig auf das Grün zu treten, um das zarte Leben nicht zu zerstören. Hin und wieder beuge ich mich runter und berühre es vorsichtig mit der Hand.
Aber was mir am meisten gefällt, ist der Dreck. Was für ein Kontrast zur Kuppel, wo alles so sauber ist! Selbst in Zone 3 sind die Straßen immer tipptopp. Obwohl wir noch nicht lange unterwegs sind, sind meine Stiefel bereits total verdreckt und zerkratzt. Die alten Straßen sind größtenteils unpassierbar, und die schmalen Pfade, die wir nehmen, sind nichts weiter als verschlammte, ausgetretene Spuren früherer Touristen, die wie Blutbahnen von der Kuppel wegführen. Ein unüberschaubares Adernetz. Wieder ziehe ich meine Handschuheaus, bücke mich und kratze mir eine Handvoll kalter, harter Erde zusammen. Ich zerkrümele sie, bis nur noch ein kleiner blauer Stein übrig ist, an dem ich mit meinem Daumen und Zeigefinger reibe.
Alina, die zwischen mir und Quinn läuft, schaut mir zu, ihre Augen hinter der Maske lächeln. Aber ich weiß nicht genau, warum sie lächelt – vielleicht be lächelt sie mich auch einfach nur. Ich lasse den blauen Stein fallen und wische die Hände an meiner Hose ab. Dabei sehe ich, dass Alinas Schnürsenkel offen sind. Ich überlege, darüber hinwegzugehen, aber dann zeige ich doch auf ihre Füße. Sie nickt und bindet die Senkel zu. Als sie sich wieder aufrichtet, lächle ich sie ebenfalls an. Vermutlich, weil ich sie auf meine Seite ziehen und ihr zeigen will, wie nett ich bin. Wenn ich nett zu ihr bin, wird sie mir Quinn vielleicht nicht wegnehmen.
Eine halbe Stunde später haben wir das Ehrengrabmal erreicht. Dort hat sich bereits eine Schar Trauernder versammelt, um gemeinsam die verstorbenen Verwandten zu beweinen und deren Namen von einem riesigen fünfeckigen Stein abzulesen. Um die Ausbreitung von Seuchen zu vermeiden, werden die Toten meilenweit von der Kuppel entfernt
Weitere Kostenlose Bücher