Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
mir dann, ihm nach drinnen zu folgen.
»Setz dich lieber«, sagt er.
Da ich diese Formulierung nur aus Filmen kenne, weiß ich nicht recht, was ich tun soll. Silas schaltet den Fernseherein und wechselt zu einem Musiksender. Dort läuft Musik zum Abtanzen, was Silas hasst. Trotzdem dreht er die Lautstärke auf und lässt sich aufs Sofa fallen. Ich setze mich neben ihn.
»Abel ist verschwunden«, flüstert er.
»Was?«, frage ich, obwohl ich ihn sehr wohl verstanden habe.
»Abel. Ist verschwunden«, zischt er. »Er war mehrere Tage nicht in der Schule. Ich dachte, er sei krank oder so. Hab mir zunächst keine Sorgen gemacht. Bis ich heute bei ihm vorbeigefahren bin, um zu sehen, was los ist. Aber da war keiner. Und dann hat mir eine Nachbarin erzählt, dass sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hat. Wusstest du, dass er alleine lebt?«
»Nein.«
»Wie auch immer, die Nachbarin wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Vielleicht hilft’s.«
»Ich hab ihn am Tag nach unserer Ulmen-Mission gesehen und wir hatten uns eigentlich für heute zum Mittagessen verabredet.« Ich erwähne nicht, wie sauer und gekränkt ich war, dass er mich versetzt hat. Ebenso wenig erwähne ich, dass ich die Schule geschwänzt habe, weil ich es nicht ertragen konnte, in diesem Zustand Mr Banbury über Algorithmen labern zu hören. »Vielleicht hat er die Kuppel verlassen?«
»Das hatte ich auch gehofft. Also bin ich zum Grenzposten und hab die Ausreiseliste eingesehen. Fehlanzeige. Ich sag’s dir, Alina, er ist verschwunden. Weg. Und nicht nur das: Sie hatten seinen Namen nicht mal im System. Offiziell existiert er gar nicht.«
»Was ist mit dem Schülerverzeichnis?«
»Hab ich auch versucht. Unter seinem Namen ist niemand zu irgendwelchen Kursen angemeldet.«
Ich starre die halb nackten Tänzer auf dem Bildschirm an. Die Musik ist nervtötend laut. Ich kann nicht denken. Am liebsten würde ich den Ton abdrehen und in absoluter Stille dasitzen. Aber dann würden wir Gefahr laufen, dass uns irgendjemand hört. Verdammt, ich weiß, was es bedeutet, wenn Menschen in der Kuppel vermisst werden. Vermisst heißt: für immer. Vermisst heißt: tot.
Wir sitzen lange einfach nur schweigend da. Hin und wieder schaut Silas zu mir, aber ich starre auf den Bildschirm und sage nichts. Ich konzentriere mich. Ich konzentriere mich darauf, nicht an meine Eltern zu denken, an das, was vor zwei Jahren mit ihnen passiert ist, als sie von einem Tag auf den anderen verschwanden und wir nie wieder etwas von ihnen gehört haben. Natürlich haben wir keine Sekunde an das Märchen geglaubt, das das Ministerium der Presse aufgetischt hat: dass sie nämlich die Grenzsoldaten überlistet hätten und weggelaufen seien. Trotzdem mussten wir diese offizielle Verlautbarung jedem, der sich nach Mom und Dad erkundigte, auf die Nase binden, wenn wir nicht ebenfalls von der Erdoberfläche verschwinden wollten.
Will Silas mir gerade weismachen, dass Abel tot ist? »Glaubst du, sie haben ihn aus dem System gelöscht?«, frage ich.
Silas seufzt und kratzt sich am Hinterkopf. »Das macht keinen Sinn. Abel weiß ja nichts. Er hat sich uns doch gerade erst angeschlossen.«
Er lässt seinen Blick über den Balkon schweifen. Garantiert überlegt er, ob er die Pflanzen jetzt vernichten soll oder nicht. Schließlich haben wir keine Genehmigung dafür. Und nicht nur das: Sie würden wissen wollen, woher wir sie haben, und auf diese Frage gibt es keine gute Antwort. Silas ist mein Cousin – er ist achtzehn, zwei Jahre älter als ich, und praktisch erwachsen. Wenn er die Pflanzen vernichten muss, dann wird er es tun. Aber zuerst wird er nach einer Alternative suchen. Er hat viel zu viel darin investiert, um diese Pflanzen kampflos aufzugeben.
»Was werden sie mit ihm tun?«, frage ich. Ich sehe Abel vor mir, an einen Stuhl gefesselt, wie sie ihn blutig schlagen. Wie sie ihn an den Füßen aufhängen. Ihm Stecknadeln unter die Fingernägel rammen. Und natürlich stelle ich mir das Naheliegende vor: Abel aus der Kuppel gestoßen, ohne Sauerstoff, nach Luft ringend.
Ich drehe mich zu Silas um. Ich muss wie versteinert aussehen, denn er klopft mir auf die Schulter und lächelt. »Wir müssen einfach nur vorsichtiger sein«, sagt er. »Wir haben zu oft in der Schule gefehlt. Wir dürfen keinen Verdacht mehr erregen. Meditieren können wir weiterhin, aber kein nächtliches Training mehr, das ist zu gefährlich.«
»Aber wir müssen Abel helfen! Mein Gott, es ist
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