Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
vereinzelt werden sogar Gebete und Segenssprüche gemurmelt. Waren Silas und ich eben noch bei allen in Ungnade, weil wir Fremde angeschleppt haben, scheint plötzlich alles vergessen. Wir werden als Helden gefeiert, obwohl wir noch gar nichts vollbracht haben. Was Zweifel in mir aufkommen lässt: Ist diese Mission vielleicht total irrwitzig? Das reinste Himmelfahrtskommando? Silas hatte wahrscheinlich recht, als er sagte: Wenn wir lebend hier rauskommen wollen, dann sollten wir schleunigst verschwinden. Und das könnten wir eigentlich immer noch. Sobald wir das Stadion verlassen, könnten wir westwärts laufen und nie mehr wiederkommen.
Da schlängelt sich Jazz durch die ständig wachsende Schar von Leuten zu mir durch und überreicht mir eine kleine weiße, vollkommen glatte Muschel.
»Tut mir leid, dass ich deinen Freunden eine geklebt hab«, sagt sie.
»Woher hast du die?« Ich betrachte die Muschel in meiner Handfläche.
»Die hat meiner Mutter gehört. Dad hat sie ihr zu meiner Geburt geschenkt. Er wollte eigentlich einen Kettenanhänger daraus machen lassen, aber irgendwie ist er nie dazu gekommen. Na ja, und seitdem trag ich sie immer in der Hosentasche bei mir.«
»Die kann ich nicht annehmen«, sage ich.
Muscheln sind unglaublich wertvoll. Sie werden von der Küste importiert und kosten ein Heidengeld, wenn man sie in der Kuppel kauft. Wirklich reiche Leute erkenntman daran, dass sie Muschelschmuck tragen oder ihre Wohnung mit Muscheln dekorieren.
»Du sollst sie ja auch nicht behalten. Ist nur ’ne Leihgabe. Wenn du zurückkommst, gibst du sie mir wieder«, erklärt Jazz.
Ich danke ihr und stecke die Muschel in meine Brusttasche.
»Fertig?«, fragt Dorian.
Während der letzten Stunde ist es ihm irgendwie gelungen, Petra davon zu überzeugen, dass seine Anwesenheit bei der Mission wichtig ist. Zumindest ist das seine Version der Geschichte. Genauso gut ist denkbar, dass Petra ihn mitschickt, damit er uns auf die Finger schaut.
»Nein!«, beschwert sich Maude. Sie wurde mit neuen warmen Stiefeln ausgestattet und hat einen Mantel von Jazz bekommen. »Ich will telefonieren. Und ’nen Anwalt. Hab eigentlich schon ’n Date heut Abend. Lasst mich dem armen Typen wenigstens absagen.«
Einige Leute kichern.
Ich werfe mir meinen Rucksack über die eine Schulter und Maudes Rucksack über die andere, drehe das Ventil meiner Sauerstoffflasche auf und folge den anderen durch das Gedränge nach draußen. Beim Verlassen des Stadions werfe ich einen letzten Blick über die Schulter: Petra steht etwas abseits von der Menge und blickt uns hinterher. Hinter ihrer Härte und Unnachgiebigkeit flackert etwas auf, das ich noch nie bei ihr gesehen habe. Ich gehe weiter, und als ich mich ein zweites Mal umdrehe, weiß ich, was es ist: Angst.
Um uns herum tobt ein regelrechter Schneesturm. Der Wind fegt uns entgegen und macht ein Vorankommen fast unmöglich. Vor allem aber droht er, die Geräusche der sich nähernden Armee zu überdecken. Wie leicht kann man das Zischen eines Zips für eine peitschende Windböe halten oder das Rumpeln eines Panzers für entferntes Donnergrollen.
Abgesehen von Maude, die sich extrem schwertut, in dem Schnee zu laufen, bin ich die am wenigsten Durchtrainierte. Eigentlich sollte ich mich jetzt, in Begleitung von Silas und Dorian, sicherer fühlen als auf dem Weg zum Rebellenhain, als ich ganz alleine mit Bea und Maude war. Aber aus irgendeinem Grund bin ich deutlich weniger zuversichtlich. Vielleicht liegt es daran, dass ich zu viel weiß. Dass ich zum Beispiel weiß, dass Inger tot ist – obwohl Silas da war, um ihn zu beschützen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht mehr so tapfer sein muss, jetzt, wo andere die Führung übernommen haben. Vielleicht habe ich aber auch einfach nur aufgegeben.
Wir laufen eine gefühlte Ewigkeit, Maude immer an der Spitze unseres kleinen Trüppchens. Eine Pause machen wir nur, um einen prüfenden Blick auf die Karte zu werfen und eine halbe Birne zu essen. Maudes Gesicht ist rot gefroren und ihre Wimpern sind vereist. Ich will ihr Gesicht in meine Hände nehmen, um sie mit meinen dicken Handschuhen zu wärmen, aber sie faucht nur, als ich mich ihr nähere. Ich habe eben nicht Beas weiche Art.
Dorian, der die Szene beobachtet hat, setzt seine Wollmützeab und reicht sie Maude, ohne sie dabei anzusehen. »Hier, nimm die«, sagt er und tatsächlich setzt Maude die Mütze sofort auf.
»Sie darf nicht erfrieren, bevor wir überhaupt in das
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