Brenda Joyce
wenn ich gleich mit
Bragg persönlich spreche. So muss sich Mrs Channing nicht erst mit
irgendwelchen Streifenpolizisten abgeben, ehe sich ein Inspector der Sache
annimmt. Doch zuallererst möchte ich Harris befragen, den Diener.« Ehe
Francesca die Polizei einschaltete, wollte sie sich einen gewissen Vorsprung
verschaffen. Es ließ sich nicht leugnen – dies war ihr Fall. Mrs
Channing hatte das mehr als deutlich gemacht.
Sarah nickte. »Wie ich sehe, bist du trotz der unseligen Umstände
begeistert, wieder deiner größten Leidenschaft nachgehen zu können – dich als
Detektivin zu betätigen.«
Ein Lächeln stahl sich auf Francescas
Gesicht. »Ich kann wohl einfach nicht anders. Du und ich, wir sind uns sehr
ähnlich, Sarah.«
»Das scheint mir auch so. Obwohl niemand auf den Gedanken käme,
wenn er uns ansieht – du bist so schön und voller Leben, ich hingegen bin
unscheinbar und langweilig.«
»Du bist nicht unscheinbar! Und erst recht nicht langweilig!«,
widersprach Francesca vehement. »Mit offenem Haar und mit deinen großen braunen
Augen bist du sogar schön, Sarah, aber vor allem bist du so einzigartig.«
»Es macht mir nichts aus, unscheinbar zu sein, und es kümmert mich
nicht, wenn mich alle für ein graues Mäuschen halten. Du weißt, dass ich nichts darauf gebe, was die
anderen denken. Mir ist nur meine Kunst wichtig.« Plötzlich glomm in ihren
Augen ein zorniges Funkeln auf. »Warum, Francesca? Warum?«
»Ich weiß
es nicht. Aber ich werde es herausfinden. Ich lasse dich nicht im Stich,
Sarah.« Das war ein Schwur.
Das Polizeirevier befand sich im Gebäude 300 Mulberry Street, in
einem wenig vornehmen Teil der Stadt – geradezu in einem Slum, in dem sich
allerlei zwielichtige Gestalten, Taschendiebe, Huren und Straßenräuber
tummelten. Francesca hatte sich mittlerweile an den Anblick der Betrunkenen
gewöhnt, die auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber der Vordertreppe
zum Revier, herumlungerten. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging sie an einem
jungen Gentleman vorbei, der gerade einer Frau mit grell geschminktem Gesicht
und flammend rotem Haar mehrere Silberdollar aushändigte. Lächelnd betrachtete
sie Braggs außerordentlich elegantes schwarzes Automobil, das genau vor dem
rötlich braunen Sandsteingebäude stand, in dem das Polizeirevier untergebracht
war. Zwei Streifenpolizisten in blauen Serge-Uniformen, mit Lederhelmen und
Schlagstöcken hielten ein Auge darauf. Die beiden verzogen keine Miene, als
Francesca vorbeiging – sie war auf dem Polizeirevier mittlerweile durchaus
keine Unbekannte mehr.
Während sie die Stufen erklomm, ergriff eine eigentümliche
Spannung von ihr Besitz, die, wie sie sich eingestehen musste, erheblich
weniger mit der blutroten Farbe in Sarahs Atelier zu tun hatte als mit der
Aussicht, in einem neuen Fall ermitteln zu können.
Sie und Bragg hatten etliche Tage gemeinsam
damit zugebracht, drei entsetzliche Verbrechen aufzuklären. Dabei waren sie
viel in der Stadt herumgekommen und hatten selbst vor den übelsten,
gefährlichsten Gegenden nicht Halt gemacht. Verdächtige und Zeugen waren
befragt worden, mehrmals war es zu Handgreiflichkeiten gekommen – und die
ganze Zeit über war sie an seiner Seite gewesen. Sie beide hatten stundenlang
diskutiert und gemeinsam über Problemen gebrütet, und mehr als ein Kuss von
Bragg hatte Francescas Welt in den Grundfesten erschüttert, zuletzt und am
heftigsten auf dem Ball der Channings. Francesca schauderte und blieb einen
Moment lang stehen, ehe sie die Vorhalle des Reviers betrat. Wie hätte sie
anders gekonnt, als sich in Rick Bragg zu verlieben, dachte sie hilflos.
Vom ersten Augenblick an, als sie sich bei
einem Ball in ihrem Elternhaus begegneten, war sie in ihn verliebt gewesen. Er
hatte umwerfend ausgesehen in seinem Smoking, mit dem dunklen Teint und den bernsteinfarbenen
Augen, dem goldbraunen, von blonden Strähnen durchzogenen Haar und den
auffallend hohen Wangenknochen. Sie hatte ihn auf den ersten Blick erkannt,
noch ehe sie einander vorgestellt wurden, denn sie kannte sein Bild bereits aus
den Zeitungen. Seine Ernennung zum Commissioner hatte allerlei Spekulationen
ausgelöst, da man von ihm erwartete, die für Korruption berüchtigte Polizeibehörde der Stadt zu reformieren. Rick Bragg war ein Mami,
der im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand. Und sobald ihr Vater sie
miteinander bekannt gemacht hatte, war es zu einer aufregenden,
spannungsgeladenen Diskussion gekommen.
Von
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