Brenda Joyce
ein zierlicher kleiner Engel. Sie war sehr blass, und ihre geröteten Augen
verrieten, dass sie geweint hatte. »Francesca! Was machst du denn hier?«,
fragte sie mit erstickter Stimme.
Francesca vergaß augenblicklich ihre eigenen
Probleme, lief ihrer Freundin entgegen und schloss sie in die Arme. »Du Ärmste!
Deine Mutter hat nach mir geschickt. Wer tut denn nur so etwas?«
Sarah zitterte. »Ich habe Mutter doch gesagt,
dass sie dich nicht rufen soll! Es war schon jemand von der Polizei hier. Du hast
schwere Verbrennungen an der Hand und musst dich schonen, und zwar nicht nur
körperlich!«
Francesca nahm Sarahs Hand in ihre unversehrte Linke. »Wie
konntest du mich nicht rufen? Ich bin deine Freundin! Sarah, wir müssen
diesen abscheulichen Missetäter finden! Wer könnte so etwas getan haben?«
»Ja, das ist
die Frage«, gab Sarah heiser zurück. In ihren großen, schokoladenbraunen Augen
standen Tränen. »Ich bin derart am Boden zerstört, dass ich gar nicht klar
denken kann. Jedes Mal, wenn ich versuche zu überlegen, wer es gewesen sein
könnte, drehen sich meine Gedanken nur fruchtlos im Kreis, und all meine
Grübeleien führen zu nichts. Ich habe es heute Morgen um Viertel nach fünf
bemerkt – das ist die Zeit, zu der ich normalerweise mit der Arbeit beginne«,
fügte Sarah hinzu, noch immer am ganzen Körper bebend.
»Ich vermag mir kaum vorzustellen, wie dir
zumute sein muss«, erwiderte Francesca leise. Das entsprach der Wahrheit – sie
versuchte sich auszumalen, wie sie selbst sich fühlen würde, wenn jemand in ihr
Zimmer eingedrungen wäre und ihre Aufzeichnungen, ihr Tagebuch, ihre Bücher
vernichtet hätte. Doch ihre Vorstellungskraft reichte nicht aus. Dabei war sie
nicht einmal eine brillante Künstlerin, sondern lediglich eine Intellektuelle.
Wie auch immer, ihr Instinkt sagte ihr ganz deutlich, dass in der
blutroten Farbe eine grauenhafte Symbolik steckte.
Sarah blickte ihre Freundin unter Tränen an. Sie hatte eine Art,
Menschen so direkt anzusehen, dass diese beinahe den Wunsch verspürten,
davonzulaufen und sich vor ihrem Blick zu verstecken. »Francesca, wie kannst
du dich jetzt um meine Probleme kümmern? Du bist verletzt, und außerdem –
hattest du nicht geschworen, dich für ein paar Wochen aus jeglichen Ermittlungen
herauszuhalten?«
Das hatte Francesca in der Tat, und diesen Entschluss hatte sie
Sarah noch zwei Tage zuvor klar und deutlich mitgeteilt – doch ebenso klar war,
dass sie zu jenem Zeitpunkt unter dem Einfluss von Laudanum gestanden hatte.
»Mach dir keine Gedanken, meine Hand heilt ausgezeichnet, das hat Finney selbst
bestätigt. Ich kann nun einmal eine Freundin in einer Notlage nicht im Stich
lassen, Sarah. Das sind mildernde Umstände.«
Sarah war so niedergeschlagen, dass sie keine weiteren Einwände
erhob. Fürsorglich geleitete Francesca sie zu einem Sofa, auf dem sich die
beiden jungen Frauen niederließen. Francesca war fest entschlossen, den
Schurken, der das Chaos angerichtet hatte, seiner gerechten Strafe zuzuführen.
Eifrig forderte sie ihre Freundin auf: »Erzähle mir ganz genau, was gestern
Abend vorgefallen ist, Sarah.«
»Wir waren ausgegangen, kamen aber recht früh
zurück, und gegen halb elf war ich wieder an der Arbeit – an deinem Porträt, um
genau zu sein. Um Mitternacht hatte ich mehrere Kompositionen fertig gestellt,
mit denen ich recht zufrieden war, brach die Arbeit ab und ging zu Bett. Das
heißt, es war zehn Minuten nach Mitternacht«, korrigierte sie sich. Ihr Gesicht
nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich war so begierig auf die Arbeit an deinem
Porträt für Mr Hart! Jetzt, jetzt ...« Ihre Stimme versagte.
Bei der Erwähnung des Namens krampfte sich alles in Francescas
Innerem zusammen. Calder Hart war einer der vermögendsten und berüchtigtsten
Bürger der Stadt – berüchtigt für seine tiefe Verachtung von Höflichkeit und
gesellschaftlicher Etikette, die er bei jeder Gelegenheit offen zur Schau trug.
Da er jedoch so reich war, konnte er sich sein Benehmen erlauben und stand
trotz seiner schockierenden Umgangsformen und der Neigung, unverblümt seine
Meinung zu äußern, bei jeder Feierlichkeit auf der Gästeliste. Außerdem war er
ein Schürzenjäger, woraus er ebenfalls keinen Hehl machte.
Doch vor allem war er ein eifriger, wenn nicht gar fanatischer,
weltberühmter Kunstsammler. Francesca hätte selbst einen Mord begehen mögen,
als er verlangte, Sarah solle sie porträtieren. Selbstverständlich würde er
bald
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