Brennende Fesseln
fahre die Rosario hinauf, um dann links in die Montgomery einzubiegen. Hupend winke ich einem Nachbarn, dessen Namen ich nicht kenne, einem älteren Mann in einem kurzen Plaidmantel, der seinen flauschhaarigen Pudel spazierenführt. Ich fahre die Straße hinauf, habe aber eher das Gefühl, in einem Kahn einen Fluß hinaufzusegeln. Ich bin an die Größe des Cadillacs nicht gewöhnt, seine schwarze, glänzende Riesigkeit erstaunt mich immer wieder aufs neue. Jedesmal, wenn ich in letzter Zeit in die Garage ging und mich in den Wagen setzte, war mir, als schrumpfte ich ein paar Zentimeter. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das kaum über das Lenkrad sehen kann und Schwierigkeiten hat, mit dem Fuß das Gaspedal zu erreichen. Natürlich bildete ich mir das alles nur ein – meine Füße reichen problemlos an die Pedale heran –, aber der Cadillac hat noch immer eine überwältigende Wirkung auf mich.
Ich fahre die Interstate 80 in Richtung Osten, lasse mich vom nachmittäglichen Verkehr dahintreiben. Bilde ich mir das nur ein, oder weichen mir die anderen Wagen tatsächlich aus? Ich scheine mehr Platz einzunehmen, als ich sollte – aber nein, ich bin noch ein gutes Stück diesseits der weißen Fahrbahnmarkierung. Ich drehe das Fenster einen Spalt auf und lasse die eisige Luft ins Wageninnere blasen. Die Kälte weckt meine Lebensgeister, und ich fühle mich fast ein wenig aufgedreht, als hätte ich gerade eine Tasse heißen, starken Kaffee getrunken.
Ich fahre über die Brücke, umrunde das Regierungsgebäude und parke schließlich vor Ians Haus. Meine Reifen zermalmen das braune, trockene Laub im Rinnstein. Ich drehe den Zündschlüssel. Ein langes, klapperndes Geräusch ist zu hören, ehe der Motor endgültig schweigt. Zusammengekauert bleibe ich
hinter dem Lenkrad sitzen, will noch ein bißchen Zeit gewinnen. Ein Windstoß fährt in die Äste des Baumes, unter dem ich parke, und ein paar braune Blätter segeln auf den Asphalt. Der Baum ist fast kahl, seine nackten Äste strecken sich wie flehend gen Himmel. Ich klettere aus dem Cadillac.
Ian ist nicht zu Hause, aber ich suche meinen Schlüssel heraus und öffne mir – zum zweiten Mal – selbst. Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen, das letzte Mal im September, kurz vor seiner Verhaftung. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.
Während ich auf der Couch auf ihn warte, überlege ich, was ich sagen werde. Abgesehen von dem Georgia-O’Keeffe-Druck, sind die Wände noch immer kahl und makellos weiß. Ich schließe die Augen, aber der Kuhschädel scheint sich in die Innenseiten meiner Lider eingebrannt zu haben. Wo soll ich anfangen? Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich noch vor einem Jahr war, das muß ich ihm als erstes sagen. M. weiß so viel mehr über mich – kennt meine Geheimnisse, meine wunden Punkte – als Ian. Dabei ist Ian der Mensch, in den ich mein Vertrauen hätte setzen sollen. Ich weiß, daß es an der Zeit ist, mein Leben in Ordnung zu bringen und die Freiheit wiederzuerlangen, die ich so widerstandslos an M. abgetreten habe.
Als ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloß dreht, öffne ich die Augen. Die Tür schwingt auf, und Ian kommt herein. Sein Körper – blond, stämmig, immer ein wenig linkisch, das genaue Gegenteil von M.s geschmeidiger, fast eleganter Erscheinung – füllt den ganzen Türrahmen aus. Er trägt seinen Gangsteranzug, denselben grauen Nadelstreifenanzug, den er bei unserer letzten Begegnung trug, kurz vor seiner Verhaftung. Der Anzug ist verknittert, die offene Jacke sitzt schief. Er knallt die Tür zu und macht zwei Schritte in den Raum, ehe er mich bemerkt. Ich sehe die Überraschung auf seinem Gesicht augenblicklich in Verärgerung umschlagen.
»Ich weiß, daß ich hier eigentlich nichts zu suchen habe«, sage ich schnell und stehe auf. »Aber ich mußte dich unbedingt
sehen und bin hergekommen, obwohl ich wußte, daß du wahrscheinlich bei der Arbeit bist.«
Er runzelt die Stirn, der Blick seiner blauen Augen ist mißtrauisch. »Du hättest anrufen sollen.«
»Ich hatte Angst, daß du sagen würdest, ich soll nicht kommen. Ich fürchtete, du würdest mich nicht sehen wollen.«
»Stimmt. Gib mir meinen Schlüssel zurück.«
Er sieht müde aus. Sein Gesicht wirkt verhärmt, seine Schultern sind gebeugt. Er kommt zu mir herüber und streckt die Hand aus. Selbst sein Gang, der früher so federnd und voller Leben war, wirkt schwerfällig.
»Gib mir den Schlüssel«, sagt er.
Ich mühe mich
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