Brennende Fesseln
schloß einen Patienten an die Maschine an, maß bei einem anderen den Blutdruck, tröstete nebenbei einen dritten. Sie hatte alles unter Kontrolle . Wer Franny kannte, wußte, daß das kein Wort war, das die Leute normalerweise auf sie angewendet hätten. Aber ein paar Stunden später, sobald sie das Gefühl hatte, daß die Dinge sie zu überwältigen drohten, zog sie sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer zurück.
Inzwischen war sie wieder nach Davis gezogen. Sacramento machte ihr angst – sie gewöhnte sich nie an die vielbefahrenen Freeways (die eigentlich gar nicht so hektisch sind, verglichen mit dem Verkehr in Los Angeles oder San Francisco), die Zeitungsberichte über Gewalttaten, Schießereien, gelegentliche Messerstechereien, Morde unter Bandenmitgliedern. Franny pendelte lieber zur Arbeit. Davis war ruhig, und abgesehen von ein, zwei Fahrraddiebstählen, gab es dort kaum Kriminalität. Sie mochte den Markt am Samstagvormittag im Central Park. Sie genoß es, mit ihrem Rad durch das Arboretum, die Baumschule auf dem Unigelände, zu fahren und am Putah
Creek die Enten zu füttern. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Michael M. kennen.
Meine Schwester führte auf ihrem Macintosh-Computer ein bruchstückhaftes Tagebuch, das sie »Franny’s File« nannte. Als ich es las, entdeckte ich, daß ich sie überhaupt nicht gekannt hatte. Sie schrieb über ihre Leidenschaften, über ihre Sehnsüchte und Sorgen. Sie schrieb über Michael M., über die Dinge, die er ihr antat, ihre Erniedrigung und Verzweiflung. Seine subtile, unterschwellige Schwärze sickert zwischen ihren Worten hindurch; trotzdem wirkt der Ton ihrer Tagebucheinträge naiv und unschuldig. Sie scheint nicht in der Lage gewesen zu sein, zwischen ihren eigenen Zeilen zu lesen und zu erkennen, wie krank M.s Phantasie war. Wie ein metastasenbildender Krebs manövrierte er sich in ihr Leben und machte sich daran, sie zu zerstören.
Die Polizei hat ihren Mörder noch nicht gefaßt, und obwohl die ermittelnden Beamten ihr Tagebuch gelesen haben, hat man M. laufenlassen. Aus Mangel an Beweisen, hieß es. Er habe kein Motiv, nichts, was ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringe. Das einzige, was das Tagebuch beweise, sagte ein Beamter nicht gerade taktvoll zu mir, sei, »daß Ihre Schwester in punkto Männer keine besondere Menschenkenntnis besaß«. Sie sind in eine Sackgasse geraten, aber ich habe vor, ihnen die Beweise zu liefern, die sie brauchen. Daß M. nicht angeklagt worden ist, heißt noch lange nicht, daß er die Tat nicht begangen hat. Jeder, der Frannys Tagebuch gelesen hätte – der gelesen hätte, was er ihr angetan hat –, würde verstehen, wieso er schuldig ist und wieso ich ihn nicht davonkommen lassen werde – nicht davonkommen lassen kann.
Ich habe immer geglaubt, daß die Menschen grundsätzlich gut sind, daß sie in einem Zustand der Gnade geboren werden, an dem nur ein unglückliches Umfeld etwas ändern kann. Ich habe immer geglaubt, daß das Böse – das ererbte, angeborene Böse – nicht existiert. Inzwischen bin ich mir nicht mehr
so sicher. Ich bin Journalistin, schreibe wissenschaftliche Artikel für den Sacramento Bee , und im Lauf der Jahre habe ich dabei folgendes gelernt: In der Debatte »Erbe versus Erziehung« erweist sich das Erbgut letztendlich als Sieger. Die Gehirnforschung gelangt zunehmend zu der Erkenntnis, daß die Gene eine viel größere Rolle für das menschliche Verhalten spielen, als bisher angenommen. Die Wissenschaftler spekulieren sogar, daß Gewalttätigkeit erblich ist und daß der männliche Teil unserer Spezies ein Gen in sich trägt, das ihn dazu drängt, sich aggressiv zu verhalten und eher den Krieg zu suchen als den Frieden. Männer benehmen sich einfach anders als Frauen, und nach Meinung verschiedener Wissenschaftler haben diese Verhaltensunterschiede biologische Wurzeln. An diesem Punkt sollte ich – nur, um Mißverständnisse zu vermeiden – vielleicht klarstellen, daß ich Männer mag, schon immer gemocht habe. Die Männer schlechtzumachen ist nicht mein Metier, und mein Ziel besteht nicht darin, aus einem höchst persönlichen Motiv heraus das gesamte männliche Geschlecht als bösartig darzustellen. Ich habe durchaus gute Beziehungen mit Männern gehabt.
Aber wenn es stimmt, daß Männer aufgrund ihrer Gene zu Gewalt und Aggression neigen, ist dann auch Bösartigkeit eine Frage der Biologie? Existiert das Böse als eine Art Normabweichung – vielleicht als Genmutation,
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