Brennende Fesseln
dem Tag nicht geregnet hätte, säße ich jetzt wahrscheinlich im Gefängnis. Ich hätte meine Wollhandschuhe nicht angehabt – meine Fingerabdrücke wären auf der Haustür gewesen. Es war das einzige Gewitter in jenem Frühling. Am nächsten Tag verzogen sich die Wolken, und die Sonne kam heraus.«
Ich nicke, während ich diese Information verarbeite. Noch immer habe ich das Gefühl, neben mir zu stehen. »Was ist mit der Holzschnitzerei?« frage ich ihn. »Ich meine die, die Ian angeblich Franny geschenkt hat.«
»Ich habe sie in einem Geschäft in Sonoma gekauft.« Er versucht, mit den Schultern zu zucken, aber die Ketten lassen ihm nicht genug Bewegungsfreiheit. »Ich wollte, daß du dich in meiner Gegenwart wohl fühlst, und es war so leicht, den Verdacht auf Ian zu lenken. Zu leicht. Ich hatte das eigentlich gar nicht geplant. Es traf sich gut, daß er Franny gekannt hatte. Als du ihn erst einmal in Verdacht hattest, warst du dir meiner Schuld nicht mehr so sicher.«
»Und Mark Kirn?«
M. wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Du solltest der Polizei wirklich mehr Vertrauen schenken, Nora. Natürlich hatten sie den richtigen Mann. Die Beweise, die gegen ihn vorlagen, waren eindeutig.« Er grinst süffisant. »Aber es war ein ziemlicher Spaß, dich nach San Quentin rennen zu sehen.«
Die brennenden Kerzen haben den Raum aufgeheizt. Ich habe das Gefühl, von der warmen Luft erdrückt zu werden. »Du hast hinter den anonymen Briefen gesteckt. Und die Briefe und Fotos geschickt. Du bist in mein Haus eingebrochen, während ich schlief.«
M. nickt.
»Wie bist du an meinen Hausschlüssel gekommen?«
»Das war einfach – genau so, wie ich an den von Ian gekommen
bin. Ich habe mir damals im März einen Nachschlüssel machen lassen. An dem Tag, an dem ich dich betäubt und eingewickelt habe.«
M. hatte die ganze Zeit einen Schlüssel zu meinem Haus. Und ich habe mir eingebildet, in der Torrey Street sicher zu sein.
»Und du warst auch derjenige, der mich vor dem Supermarkt beinahe überfahren hätte.«
»Nein«, entgegnet er schnell. »Das war ich nicht. Das war wahrscheinlich ein Versehen – oder ein Junge, der sich einen Scherz erlaubt hat. Ich wollte dir nie schaden. Nie.« Er lächelt. »Aber es hat mir gut in den Kram gepaßt.«
Plötzlich müde, streiche ich mir das Haar aus der Stirn und schlage dann die Hände vors Gesicht. Voller Entsetzen denke ich an das, was ich Ian angetan habe.
M. sagt: »Nora, ich wollte sie nicht töten. Es war ein dummer Zufall. Das Gerät sollte ihr nur einen Schlag verpassen, einen Schock, ich wollte nicht, daß ihr Herz stehenbleibt.«
Ich höre ihn seufzen, aber es ist keine Reue, sondern Ungeduld – als wäre es jetzt, da er mir die Wahrheit gesagt hat, an der Zeit, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Für ihn scheint die Sache damit ausgestanden zu sein. Er spricht weiter.
»Du kannst dir sicher vorstellen, warum ich nicht die Polizei alarmiert habe. Sie hätten mich mit Sicherheit festgenommen – warum hätte ich mir durch einen Unfall mein Leben zerstören lassen sollen?«
Endlich dringen seine Worte ganz zu mir durch. Ich habe nicht mehr das Gefühl, alles aus weiter Ferne zu erleben. Seine Worte haben wieder ihren gewohnten, harten Klang. Ich nehme die Hände vom Gesicht. »Du hast Franny ermordet«, sage ich.
Seine Miene wirkt gelassen, kalt und unergründlich. Ruhig sagt er: »An deiner Stelle würde ich nicht diesen moralischen
Ton anschlagen. Ein Tod ist ein Tod. Egal, ob die Ursache ein Unfall oder eine Abtreibung ist, am Ende läuft es auf dasselbe hinaus.«
»Nein«, widerspreche ich hitzig. »Es läuft nicht auf dasselbe hinaus.«
M. fährt fort, ohne auf meinen Einwand zu achten. »Du hast ein Menschenleben auf dem Gewissen, genau wie ich. Wir sind beide Mörder, Nora. Nur, daß meine Tat nicht beabsichtigt war, deine dagegen schon. Sag du es mir – wer von uns beiden trägt mehr Schuld? Ich weiß es nicht. Ich empfinde Reue. Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was an jenem Tag passiert ist, aber ich kann es nicht. Es war ein Unfall. Und Franny selbst war auch nicht ohne Schuld. Sie hat der Sache mit dem Strom zugestimmt. Sie hat selbst zu ihrem Tod beigetragen.«
M.s Worte machen mich zornig. »Du verstehst es sehr gut, die Wahrheit zu verdrehen«, sage ich. »Du kannst dir noch so gute Argumente zurechtlegen und behaupten, sie trage eine Mitschuld an ihrem Tod, aber das ändert nichts an den Tatsachen.« Wie die
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