Brennende Fesseln
gehorchen will. Vielleicht wird er mich eines Tages verlassen. Wahrscheinlich wäre es für ihn das beste. M. hat in mir Leidenschaften erweckt, von denen ich gar nicht wußte, daß sie existieren. Vielleicht gehöre ich einfach nicht zu einem Mann wie Ian und er nicht zu einer Frau wie mir.
Ich habe die ersten paar Seiten dieser Geschichte noch einmal
gelesen – es kommt mir vor, als wäre ein halbes Leben vergangen, seit ich sie geschrieben habe. Ich weiß, daß mein Ton inzwischen weniger hart klingt. Durch meine Gratwanderung zwischen Erotik und Sadomasochismus habe ich entdeckt, daß die Grenzen – zumindest für mich – verschwimmen. Ich kann beides nicht mehr voneinander trennen. Aber ich weiß auch, wie gefährlich es ist, zu nahe am Abgrund zu stehen und sich in die Gewalt eines Mannes zu begeben, der keinerlei Moralkodex kennt. Nur Frannys Video hat mich vor dem endgültigen Sturz in den Abgrund bewahrt. Ihre Erniedrigung zwang mich, über die Notwendigkeit gewisser Grenzen nachzudenken, sie zwang mich zu der Erkenntnis, daß M. nicht der Mensch ist, dem man sich bedenkenlos unterwerfen darf. Er kennt keine Moral, und das macht ihn gefährlich.
Noch vor einem Jahr hätte ich behauptet, daß zwischen Gut und Böse eine klare Trennlinie existiert. Ich hätte gesagt, daß das Böse in den Bereich der Unterwelt gehört und daß böse Menschen jenseits jeder Anständigkeit existieren. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich glaube, daß wir unter der Oberfläche unserer Menschlichkeit alle eine dunkle Seite haben. Bei manchen ist sie wild und extrem, bei anderen weniger stark ausgeprägt, aber sie ist immer da und liegt in einem ständigen Kampf mit unserer zivilisierten Seele. Am Tag des Feuers bin ich mit meiner eigenen dunklen Seite konfrontiert worden. Ich habe M.s Einfluß gespürt.
Nietzsche hat geschrieben: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Erst jetzt, nachdem M. aus meinem Leben verschwunden ist und ich die Dinge aus einer gewissen Distanz sehe, ist mir klargeworden, daß ich M.s dunklerer Seite erlegen bin. Wie dumm ich doch war, als ich mit meiner Jagd auf ihn begann! Ich glaubte, mich ihm nähern zu können, ohne Schaden davonzutragen. Mein Sinn für Integrität und
Gerechtigkeit würde mich vor seinem Einfluß schützen, dachte ich in meiner Naivität. Aber er hat mich nicht ungeschoren davonkommen lassen. Meine Narben – die körperlichen wie die psychischen – beweisen es.
Meine Reise mit M. begann als eine Suche nach der Wahrheit, und ich habe die Antworten gefunden, nach denen ich gesucht habe, aber Frannys Reise war noch viel schlimmer als meine. Ohne Absicht stolperte sie mitten hinein in das Herz eines bösen Mannes. Für sie war es eine Reise ohne Wiederkehr. Ich werde mein Leben lang bedauern, daß ich nicht zur Stelle war, um sie zurückzuhalten, als sie ihrerseits allein und zitternd am Rand des Abgrunds stand.
Nora C. Tibbs
Davis, Kalifornien
Die O riginalausgabe erschien unter dem Titel »Topping from Below« bei St. Martin’s Press, New York
15. Auflage
Deutsche Erstausgabe 12/96
Copyright © der Originalausgabe 1995 by Laura Reese
All rights reserved
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der
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Umschlagfoto: Barnaby Hall
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Redaktion: Ge / Susanne Wallbaum
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eISBN 978-3-641-09852-0
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