Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
Geräuschkulisse dieser Stadt. Sind sie weit genug weg, zuckt keiner mehr zusammen. Wenn aber auf einem Platz in der Nähe einer Ansammlung von Menschen Geschosse einschlagen, dann schrecken sie auf und rennen in wildem Chaos durcheinander, suchen Deckung oder auch nur das Weite, ohne zu wissen, wo sie wirklich Schutz finden können. Gibt es keine zweite Explosion, hasten sie nach einigem Zögern wieder zurück, telefonieren vielleicht noch mit ihren Angehörigen: »Alles in Ordnung. Mir ist nichts passiert!« und gehen wieder ihrer Arbeit nach, auch wenn die Angst und der Schrecken über den eben noch so nahen Tod in ihren Augen steht. Nur wer Arbeit hat, überlebt im Krieg, selbst wenn er dafür sein Leben riskieren muss. Aus nackter Not. Tausende riskieren jeden Tag ihr Leben, wenn sie zwischen den Fronten pendeln.
Auch das gibt es in Aleppo, eine schmale Straße, die die Rebellenseite der Stadt mit Assads Aleppo verbindet: ein von beiden Parteien akzeptierter neutraler Übergang, der Scheich-Ress-Korridor, auf der einen Seite von bärtigen mit alten Kalaschnikows ausgerüsteten Kriegern bewacht, auf der anderen vermutlich von Assads Soldaten. Durch diesen Gang hetzen täglich tausende Menschen, weil sie ihr Geschäft auf der anderen Seite haben, ihren Arbeitsplatz oder Verwandte. Und immer wieder explodieren ganz in der Nähe Granaten. Drei bis vier Menschen sollen angeblich jeden Tag allein in diesem Korridor von Scharfschützen getötet werden. Und dennoch müssen viele ihn benutzen. Alltag in Aleppo. Überleben in Aleppo.
»Warum Angst haben. Das passiert hier jeden Tag«, antwortet uns ein vielleicht fünfzehnjähriger Verkäufer einer trüben Brühe in einem Glasballon, von der er hofft, dass Käufer dafür bezahlen und sie trinken. Gerade waren ganz in der Nähe wieder Granaten eingeschlagen. Der Junge, in abgerissenem Hemd und zerschlissener Hose, steht hier jeden Tag mit seinem undefinierbaren Saft. Und jeden Tag schlagen in seiner Nähe solche Granaten ein, viel zu nahe, aber immer noch weit genug weg.
»Das kann auch näherkommen: Ist das euch klar?«
»Aber wir müssen doch alle sterben«, mischt sich sein gleichaltriger Kumpel altklug ein und grinst schief und herausfordernd in unsere Kamera.
Die Kinder von Aleppo – vom Bürgerkrieg deformiert. Das bestätigt auch ein Familienvater, den wir noch am gleichen Nachmittag besuchen. Mit seiner siebenköpfigen Familie leben er und sein Bruder in einem einzigen Zimmer, im Westen der Stadt, der Boden mit einem abgenutzten Teppich bedeckt, an der Wand ein paar Sitzkissen. In den beiden anderen Wohnräumen haben sich in den Decken breite Risse gebildet, Betonteile sind heruntergebrochen, nachdem in der Nachbarschaft eine Scud-Rakete einschlug. Immerhin, ihr Haus wurde nur beschädigt und nicht zerstört, wie die vieler Nachbarn. Die beiden Brüder, Ali und Mohamed Quadun, versuchen sich und die Familie mit einem Gemüseladen über Wasser zu halten, mehr schlecht als recht. Kaum einer im Viertel hat Geld, Gemüse oder gar Obst zu kaufen, es sei denn, die Islamisten unterstützen ihn mit Spenden aus den Golfstaaten.
»Was sollen wir machen? Wir müssen das Geld nehmen. Wir müssen schließlich unsere Kinder ernähren«, entschuldigt sich Ali achselzuckend. Dann fragt er noch:
»Und ihr, warum schickt ihr uns nichts? Europa interessiert sich nicht für uns. Ihr habt uns vergessen.«
Seinen halbwüchsigen Sohn muss er in eine kleine Textilfabrik schicken, damit er etwas dazuverdient. T-Shirts in einer Hinterhofklitsche zusammennähen. Für sieben Dollar in der Woche. Zusammen mit anderen Kindern. Erwachsene Arbeiter kommen nicht mehr in die kleine Fabrik, entweder ist ihnen der Weg zu gefährlich oder sie sind mit ihren Familien geflohen.
Während wir im Zimmer auf dem Teppich sitzen und miteinander reden, hören wir von draußen plötzlich einen lauten Knall, eine Explosion. Die Kinder zucken kurz zusammen.
»Hast du das gehört?« fragt der Vater. »So geht das ständig, am schlimmsten ist es in der Nacht. Wenn schon die Kinder am Klang erkennen, ob es eine Rakete ist, ein Flugabwehrgeschoss oder ein Flugzeug. Was bedeutet das? Und wenn sie überleben, was wird dann aus ihnen?«
Dann führt er uns auf seinen Balkon und deutet auf das, was von seiner Nachbarschaft übriggeblieben ist: Wohnhäuser zu weißem Schutt zerbröselt, aus dem ein paar Ruinen ragen wie eingeschlagene Zahnstümpfe. Die Gewalt der Explosion hat noch auf eine Entfernung von
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