Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
verpflichtet fühlt. Kaum einer in Azaz kann sich so etwas noch leisten. Kein Wunder, dass immer wieder Nachbarn wie zufällig vorbeischauen und natürlich sofort eingeladen werden, mit uns zu essen.
Unter ihnen ein Mann ganz traditionell in Schwarz gekleidet mit auffallendem Backenbart und ausrasierter Oberlippe. Seinen Namen will er uns nicht nennen, verrät aber, dass er als Kommandant einer Mörsereinheit zu den Belagerern des nahen Hubschrauberflughafens gehört, die die eingeschlossenen Assad-Soldaten regelmäßig mit Granaten beschießen. Seine Einheit gehöre zur kampferprobten Ahrar-al-Shams-Brigade, erzählt er stolz, wartet einen Augenblick, um diese Information wirken zu lassen; dann langt er kräftig zu, lädt sich Reis und Huhn auf seinen Teller, ein paar Pommes und ein bisschen Gemüse. »Wir haben an der Front nicht viel zu essen«, entschuldigt er sich. Nach dem Essen lässt er sich dann doch ausfragen.
»Wo steht ihr in diesem Krieg? Bei der Freien Syrischen Armee oder der Nusra-Front?«
Diese Nusra-Front ist ein Ableger von Al-Qaida aus dem Irak und wird von den Amerikanern als terroristische Vereinigung eingestuft. Doch viele Syrer bewundern die aufopferungsvoll und fanatisch kämpfenden Gefolgsleute Osama Bin Ladens. Andere fürchten sie; denn es gibt auch immer wieder Meldungen, dass einige der Kommandanten in Kriminalität verstrickt sind. Überfälle, Erpressung, Entführungen.
»Wir lieben die Kämpfer der Nusra-Front«, für den Ahrar-al-Shams-Mann gibt es keinen Zweifel, »das sind unsere Freunde«. Sich selbst versteht er als Salafist, also als einen Moslem, der eine Art Steinzeitislam lebt. 83 Brigaden bilden die Ahrar al Shams, was so viel heißt wie ›Bewegung der freien Männer Syriens‹. 10 000 Kämpfer rechnen zu dieser Bewegung. Tendenz steigend. Kommandiert werden sie von Abu Abdallah, einem Mann mit imposantem Bart. Vor der Revolution war er lange als politischer Gefangener inhaftiert gewesen. Von seinen Männern lässt er sich ehrfürchtig mit »Emir« anreden, was so viel heißt wie Prinz oder Befehlshaber, also ein militärischer Rang aus der frühislamischen Zeit. Ihren Kampf verstehen sie als einen ›Heiligen Krieg‹ gegen den Iran, die libanesische Hisbollah und die syrischen Alawiten, die angeblich aus ganz Syrien einen schiitischen Staat machen wollen. Schiiten für sie – vom wahren Glauben des Propheten Abgefallene, die es zu bekämpfen gilt. Mit der Freien Syrischen Armee, dem lockeren Zusammenschluss von Deserteuren, kooperiert die Ahrar al Shams, wenn auch nur zähneknirschend.
»Und die Freie Syrische Armee?«
Die seien nicht gläubig, die würden sogar Alkohol trinken und rauchen, sie sind also Sünder, empört er sich. »Die lügen und helfen den Zivilisten nicht.«
Die Ahrar-al-Shams kann sich solche Hilfe leisten, sie bekommt genügend Geld aus den Golfstaaten, von islamischen Organisationen und von reichen Privatleuten der Wüstenstaaten. Geld, das sie im Norden Syriens unter Bedürftigen verteilt, immer mit der Auflage, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dieses Geld, über das unser kämpfender Mitesser offen redet, ist auch eine Investition in die islamistische Zukunft des Landes. Weder die Geldgeber am Golf noch die Islamisten in Syrien träumen von einem demokratischen Syrien. Nach einem Sturz Assads wollen sie aus dem Land einen streng religiösen Staat machen, der nur nach den Regeln des Koran und der Sharia regiert wird. Sie träumen von Syrien als einer Art Gottesstaat. Und wer heute großzügig gibt, so die Überlegung der barmherzigen Djihadisten, hat heute schon Menschen von sich abhängig gemacht und kann nach einem Einmarsch in Damaskus mit großer Gewissheit die Ernte einfahren.
»Und die vielen anderen Religionen, die es in Syrien gibt? Die Christen, die Drusen oder Alawiten? Welche Rolle werden die in deinem neuen Syrien spielen? Dürfen die überhaupt bleiben?«
»Der Krieg wird nach einem Sturz Assads weitergehen«, verkündet der Djihadist und nimmt sich noch eine Portion Huhn mit Reis.
»Wir müssen die Alawiten verjagen.«
Wie blutig er das meint, macht er mit einer Geste deutlich. Mit seiner flachen Hand fährt er an seiner Gurgel entlang. Die Alawiten seien die größten Verbrecher im Land, schließlich sei Assad selbst so einer. Der Hass auf die Alawiten sitzt tief bei den sunnitischen Gästen und Gastgebern dieses Abendessens. Selbst unser Begleiter Anwar, den wir für gemäßigt und besonnen gehalten hatten, kennt bei
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