Brennpunkt Nahost
größte Chance in der Geschichte ihrer Bewegung innerhalb von nur einem Jahr verspielen.
Sie hatte alle Trümpfe in der Hand, hätten ihre Wähler und auch ihre Nichtwähler von ihrer Führungsqualität überzeugen können, wenn sie sich auf die Rettung der Wirtschaft konzentriert hätten. Tatsächlich liegt die Wirtschaft des Landes am Boden, dem Staat geht das Geld aus. Viele der arbeitsfähigen Ägypter sind inzwischen gezwungen als Tagelöhner, Handlanger oder Straßenverkäufer zu arbeiten. Somit haben sie auch keinen Zugang zu dem ohnehin nur sehr schwachen sozialen Netz des Landes. Tendenz steigend. Die Armut wächst. Ägyptens Jugendliche sind die Verlierer ihres eigenen Aufstands vom Januar und Februar 2011. Kein Wunder, dass die Menschen in Ägypten bei den Wahlen 2011 und 2012 ihre ganze Hoffnung auf die Muslimbrüder im neuen Parlament und auf die neue Regierung setzten, waren die Brüder doch bekannt für ihre Wohlfahrtsprogramme.
Nur einen Teil dieses wirtschaftlichen Absturzes hat die Regierung Mursi zu verantworten, vielleicht sogar den geringsten. Er hatte schon weit vor dem Amtsantritt dieses ersten frei gewählten Präsidenten des Landes begonnen, schon zu Mubaraks Zeiten. Doch das änderte nichts an der Erwartung der meisten Ägypter. Die hieß ganz einfach: »Mursi, rette die Wirtschaft. Schaff uns Arbeitsplätze!« Dies nicht sofort aktiv anzupacken, war Mursis erster Fehler. Die Stabilisierung der Wirtschaft stand nicht ganz oben auf der politischen Prioritätenliste der Regierung. Offensichtlich war ihr wichtiger, die eigene politische Agenda durchzusetzen als auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen: also lieber die ägyptische Gesellschaft zu islamisieren als die Wirtschaft anzukurbeln, lieber sich über das korankonforme Heiratsalter von Mädchen den Kopf zu zerbrechen, als Ausbildungsplätze für sie zu schaffen. Die Moscheen blühten auf, die Wirtschaft stürzte ab, immer mehr Menschen verarmten, Touristen blieben ohnehin aus, genauso ausländische Investoren. Alles in dem einen Jahr der Mursi-Regierung.
Die Unzufriedenheit der Menschen wuchs. Die Muslimbrüder aber blieben dabei: Die Ägypter haben uns gewählt, also sollen sie auch das wollen, was wir wollen, nämlich mehr Islam in allen Lebenslagen. So oder ähnlich mag die Führungsspitze im Maktab al-Irshad, dem undurchsichtigen Führungsbüro der Muslimbrüder gedacht haben. Bis heute ist nicht klar, wie viel Einfluss dieses Leitungsgremium auf die Regierung Mursi gehabt hat in dem einen Jahr. Manche Kritiker in Ägypten sagen sogar, Mursi war eine Marionette seines Murshid Mohamed Badie – Murshid ist der Titel des obersten Führers der Muslimbrüder –, was wahrscheinlich übertrieben ist. Aber eines hatten sie gemeinsam: sie wollten eine islamistische Staatsordnung für Ägypten. Auf Biegen und Brechen. Und sie waren auf dem besten Weg, sie auch durchzusetzen. Sie übersahen dabei völlig, dass Ägypten ein facettenreiches und vielfältiges Land ist mit Kopten, mit gläubigen, aber nicht dogmatischen Muslimen, mit Liberalen, Sozialisten, selbst Kommunisten schwenkten ihre Hammer-und-Sichel-Fahnen auf dem Tahrirplatz während der Anti-Mursi-Proteste. Doch Muslimbrüder interessiert diese Vielfalt nicht, sie wollen islamistische Einfalt. Sie waren dabei, aus Ägypten einen religiös eingefärbten Einheitsstaat zu machen.
Die Ägypter aber wollten etwas ganz anderes, sie wollten Brot und Bohnen auf dem Tisch und bezahlbares Benzin im Tank, stattdessen bekamen sie Stromausfälle, Benzinknappheit und steigende Lebensmittelpreise. Sie wollen Würde und Respekt und nicht neue Vorschriften, wie sie zu leben hätten. Für die Armen hat sich in dem einen Jahr Mursi nichts geändert, Mittelständler fühlen sich vom sozialen Absturz bedroht und haben Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die ewigen Verlierer merken, dass sie auch diesmal leer ausgehen werden. Im nachrevolutionären Ägypten der Muslimbrüder nahm die Zahl der Enttäuschten, der Mittellosen und Absteiger dramatisch zu.
Um 1,5 Millionen Menschen wächst jedes Jahr die Bevölkerung des Landes am Nil. Um für die rund 800 000 Jugendlichen, die jährlich von der Schule abgehen, genügend Jobs zu schaffen, müsste die Wirtschaft im gleichen Zeitraum um mindestens acht Prozent wachsen. Tatsächlich schrumpft sie dramatisch, die Preise steigen, für Lebensmittel Anfang 2013 zum Beispiel, laut der Vereinigung Ägyptischer Handelskammern, um bis zu ein Prozent
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