Bretonische Brandung
wusste noch im selben Moment, dass es eine überflüssige Frage war. Sie hätten davon natürlich längst gehört. Der junge Polizist nahm die Frage mit freundlichem Langmut.
»Auch davon wissen wir bisher nichts, Monsieur le Commissaire. Aber wenn es gestern Abend oder gestern Nacht zum Kentern eines Bootes gekommen wäre, könnte es unter Umständen dauern, bis sein Ausbleiben bemerkt würde. Je nachdem, wie groß das Boot ist, über welche technische Ausrüstung es verfügt, wo es passiert ist, wohin es fuhr, wer es erwartete …«
Dupin machte sich ein paar lustlose Notizen.
»War denn gestern Nacht schlechtes Wetter? Gab es hier draußen einen Sturm?«
»Sie dürfen sich von dem Wetter heute nicht täuschen lassen. Gestern Abend ist ein Unwetter vor der Küste entlanggezogen, die Zentrale wird uns genau sagen können, wie stark es war und wo und wie es sich bewegt hat. In Concarneau war es nur wenig zu spüren, aber das heißt nichts. Wir verfügen über alle Aufzeichnungen. Die See ist ja noch heute einigermaßen unruhig, auch wenn es hier in der Kammer still ist. Sie haben es eben auf dem Boot selbst deutlich gemerkt.«
Das war eine neutrale Feststellung, ohne Unterton. Goulch wurde ihm immer sympathischer.
»Es war kein Jahrhundertunwetter, aber offenbar heftig«, schloss der Kapitän.
Kommissar Dupin kannte das zur Genüge, er war längst selbst zu sehr Bretone geworden, um sich von dem blauen, wolkenlosen Himmel und der perfekten Schönwetterstimmung noch narren zu lassen. Die bretonische Halbinsel, ihr äußerster, zerklüfteter Vorsprung – das Finistère –, erklärte ihm Nolwenn immer, lag weit vorgelagert mitten im Nordatlantik. »Wie ein urzeitliches Ungetüm streckt Armorika sein gezacktes Haupt aus. Gleich einem züngelnden Drachen.« Er mochte das Bild – und auf der Landkarte konnte man den Drachen tatsächlich erkennen. Die Bretagne war somit nicht nur der Urgewalt des bekanntermaßen wildesten aller Weltmeere ausgesetzt, sondern auch den chaotischen, sich unentwegt verändernden Wetterfronten, die sich zwischen der Westküste der USA, Kanada, Grönland, der Arktis und den westatlantischen Küsten Irlands, Englands, Norwegens und Frankreichs entwickelten. Das Wetter konnte innerhalb kürzester Zeit von einem ins andere Extrem umschlagen. »Vier Jahreszeiten an einem Tag« war die Formel dafür, die die Bretonen gern mit Stolz zitierten.
»Vielleicht war es ja gar kein Schiffbruch.«
Riwals Stimme hatte wieder etwas an Festigkeit gewonnen.
»Sie könnten von der Flut überrascht worden sein. Dem Unwetter. Beim Angeln oder Muschelnfischen. Vor allem, wenn es Touristen waren. Bei besonders niedrigen Ebben kommen viele Muschelfischer.«
Das stimmte. Dupin nahm den Punkt in sein Notizheft auf.
»Warum haben sie keine Schwimmwesten an? Spricht das nicht für eine solche Annahme? Dass sie gar nicht auf einem Boot waren?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Goulch bestimmt. »Viele der Einheimischen fahren ohne Schwimmwesten. Und wenn noch Alkohol dazukommt … Ich würde dem keine Bedeutung beimessen.«
Dupin machte eine resignierte Handbewegung. So war es. Sie wussten nichts – schon gar nicht hier draußen.
»Alkohol spielt allgemein eine große Rolle auf dem Meer. Besonders hier auf den Inseln«, fügte Goulch noch hinzu.
»Die Menschen behaupten, dass die Flaschen auf den Glénan kleiner sind als auf dem Festland – deswegen sind sie hier so schnell leer.«
Dupin brauchte einen Moment, bis er den Witz verstanden hatte – er nahm an, dass es einer war –, Riwal hatte ihn als sachliche Ergänzung vorgetragen.
Goulch fuhr unbeeindruckt fort:
»Die Körper sind sicherlich eine Zeit lang in der Brandung getrieben, vermutlich ist es so zu den schweren Verletzungen gekommen. Wenn es ein Bootsunfall war, haben sie sich die Verletzungen vielleicht teils schon während des Unfalles zugezogen.«
»Könnten sie weit entfernt von hier ihr Leben verloren haben? Ich meine, wie weit könnte die Strömung sie getragen haben?«
»Das hängt ganz davon ab, wie lange sie im Meer getrieben sind. Vielleicht haben sie zunächst noch gelebt und versucht, sich zu retten. Und sind dann erst ertrunken. Es macht nicht den Eindruck, als hätten sie Tage im Meer getrieben. Solche Leichen sehen anders aus. Dennoch, die Strömungen sind unterschiedlich schnell. Manche acht Stundenkilometer, so hätten die toten Körper selbst in einer Nacht schon eine beträchtliche Entfernung zurücklegen können. Aber je
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