Briefe an eine Freundin
Welle, die, was sie ergreift, verschlingt, kommt wie spielend an, und selbst den tiefsten Abgrund bedeckt lieblicher Schaum. Man hat darum oft das Meer treulos und tückisch genannt, es liegt aber in diesem Zuge nur der Charakter einer großen Naturkraft, die sich, um nach unserer Empfindung zu reden, ihrer Stärke erfreut und sich um Glück und Unglück nichts kümmert, sondern den ewigen Gesetzen folgt, welchen sie durch eine höhere Macht unterworfen ist. H.
Im November.
W as sagen Sie zu dem außerordentlich schönen Herbst? Ich dächte, ich hätte nie einen ähnlichen erlebt. Noch jetzt scheint er mehr ein Ausgehen aus dem Sommer als ein Eingang in den Winter. Ich gehe noch immer eine Stunde vor Sonnenuntergang spazieren. Da ist es, selbst bei stürmischen Tagen, meist ruhig und bei regnerischen heiter. Sie haben gewiß auch oft gesehen, wie die scheidende Sonne sich dann durch ihre eigenen Strahlen einen lichten Streifen bildet, in den sie sich dann hinabsenkt. Ist dann recht dunkles Gewölk über ihr, so regnet es meist unmittelbar nach dem Untergange, bisweilen auch noch während des Untergangs. Es ist mir die liebste Zeit des Tages. – Sie schreiben mir, daß die Centifolien in Kassel blühen. Auch hier habe
ich es zu meiner großen Verwunderung gesehen. In mittäglichen Ländern ist dies wiederholte Blühen ganz gewöhnlich. Man sieht daran, daß das vegetierende Leben beständig die Neigung hat, Blüten hervorzubringen, aber nur durch die Abwesenheit begünstigender Umstände daran verhindert wird. So traurig aber auch der Winter und seine lange Dauer sind, so entschädigt doch der Frühling dafür, nicht bloß sein Erscheinen und der Genuß desselben, sondern ganz vorzüglich das Erwarten desselben. Diese Sehnsucht ist eine der einfachsten und natürlichsten von allen und eine der reinsten Quellen, woraus jede andere Sehnsucht fließt, die so vieles und großes im Gemüte schafft und aus dessen innersten Tiefen hervorruft. Es ist dies gewiß eine der Ursachen, daß die nördlicheren Nationen doch eine tiefer ergreifende Poesie haben als die südlicheren, wenn diese auch klangvollere Sprachen besitzen. Es liegt unendlich viel in dem Einfluß, den die Natur um uns her auf uns ausübt, und es kommt da nicht darauf an, daß sie gerade Genuß gibt, sondern weit mehr darauf, daß sie Empfindungen weckt und die Kräfte in Tätigkeit bringt. Leben Sie wohl. Ihr H.
Tegel
, Dezember 1832.
D er Ton der ruhigen Zufriedenheit und selbst einer frohen Heiterkeit, in welchem Ihr letzter Brief geschrieben ist, liebe Charlotte, hat mir eine lebhafte
Freude gemacht. Ich hege nun auch die gewisse Hoffnung, daß diese Stimmung bleibend in Ihnen sein wird. Was mich in dieser beruhigenden Ansicht bestärkt, ist, daß Sie sich auch körperlich wohler fühlen, seit Sie sich befreit fühlen von einem sorglichen Kummer, der seit längerer Zeit schwer auf Ihnen lastete, und wodurch Sie nun der Ruhe und Heiterkeit wiedergegeben sind, die ein Gemüt, wie das Ihrige, das mit sich und der Vorsehung eins ist, immer genießen müßte....
Daß eine schon in sich ernste Seele in Zeiten, wo außerordentliche Erscheinungen diesen Ernst vermehren, noch ernster gestimmt wird, ist ganz natürlich. An den Wunsch und das Verlangen, nichts unberichtigt zu lassen, knüpft sich ein moralisches Gefühl, und zwar eins der wesentlichsten und achtungswürdigsten....
Der Mensch fühlt ein Bedürfnis, die großen Ideen, die in ihn gelegt sind, und die er in der Natur ausgeprägt findet, in dem kleinen Kreise seines Daseins nachzubilden, und oft, selbst wenn er ganz anderen, aus dem gewöhnlichen Leben geschöpften Bewegungsgründen zu folgen glaubt, folgt er in der Tat diesem geheimen Zuge, überhaupt ist die menschliche Natur in ihrem tiefen Grunde viel edler, als sie auf der Oberfläche erscheint. Ja selbst in anderen Stücken. Eitle Menschen sind oft in einigen mehr wert, als sie sich selbst glauben.
Sie gebrauchen in Ihrem Briefe den Ausdruck: sein Haus bestellen. Dies ist mir immer eine
so passende und gehaltvolle Rede geschienen. Es ist ein altertümlicher, echt biblischer Ausdruck, der, wie mehrere dieses Gepräges, tief aus dem Leben geschöpft ist und tief in die Seele eingreift. Auch längst, ehe ich in die Jahre kam, wo das Bestellen des Hauses wahrhaft dringend wird, habe ich mir dadurch Abschnitte im Leben zu machen gesucht und habe dies immer sehr wohltätig gefunden. Es gibt aber im Innern ein Bestellen seiner
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