Briefe an eine Freundin
H.
Tegel
, den 8. März 1833.
A uch diesmal komme ich viel später zum Schreiben, als es mein Vorsatz war, liebe Charlotte, und da ich immer viel Zeit zum Schreiben brauche, so werden Sie den Brief noch später bekommen. Sie müssen sich aber nie deshalb beunruhigen. Sie werden sagen, daß man darüber nie Herr ist. Mit jedem Ersten des Monats denke ich daran, Ihnen zu schreiben, aber es treten bei meiner Lebenseinteilung oft Tage und Reihen von Tagen ein, wo ich nicht
zum Schreiben an Sie, auch mit dem besten Willen, kommen kann. Der Vormittag ist unabänderlich wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet. Davon mache ich hier in Tegel keine Ausnahme (in der Stadt muß ich es freilich); diese Arbeiten machen jetzt eigentlich mein Leben aus, meine Gedanken sind ihnen ganz zugewendet, und da ich jetzt vieles Schlafes bedarf, so ist mein Vormittag doch kurz. Den Nachmittag gehe ich ein bis zwei Stunden spazieren, und die übrige Zeit bleibt für meine ziemlich weitläufige Korrespondenz und vielfachen Geschäfte usw. Fällt nun in diesen Dingen etwas ungewöhnlich Dringendes vor, wie es diesmal der Fall war, oder kommt Besuch, so verzögert sich gegen mein Wünschen und Wollen der Abgang meines Briefes an Sie. Dennoch bin ich glücklicherweise viel weniger Störungen ausgesetzt wie andere und genieße noch der höchst nützlichen Gabe, nie durch Mangel an Stimmung abgehalten zu werden oder die Stimmung abwarten zu müssen. Wie ich die Sache vornehme, ist, wenn ich bisweilen auch lieber etwas ganz anderes täte und mich zum Anfange wahrhaft zwingen muß, die Stimmung da. Bei dem Wort fallen mir Ihre Tabellen ein. Sie haben mich sehr interessiert. Es ist eine originelle Idee, die täglichen Zustände des Lebens schnell aneinanderzureihen, die Stimmung und alle anderen Dinge, von denen sie abhängen kann, aufzuzeichnen. Auch nur ein halbes Leben so verzeichnet,
würde zu einer Menge von Vergleichungen Stoff darbieten.
Ihr ganzer Brief hat mir Freude gemacht, da eine ruhige, in jeder Art erfreuliche Gemütsstimmung daraus hervorgeht. Nur hat mich für Sie der neue Verlust sehr geschmerzt, den Sie abermals erlitten haben. Das Vorangehen so vieler ist allerdings bei vorrückenden Jahren etwas die ruhige Heiterkeit des Gemüts sehr schmerzlich Trübendes. Ich gehe aber noch weiter. Auch das Altwerden derer, die man in Jugendkraft des Körpers und Geistes gekannt hat, ist betrübend. Ich wollte schon immer alt werden, wenn nur die, die um mich her sind, jung blieben. Indes ist das, wenn es auch nicht scheint, ein eigennütziger Wunsch.
Sie fragen mich, was ich unter Ideen meine, wenn ich sage, daß sie allein das Bleibende im Menschen sind, und daß sie allein das Leben zu beschäftigen verdienen? Die Frage ist nicht leicht beantwortet, ich will aber versuchen, deutlich darüber zu werden. Die Idee ist zuerst den vergänglichen äußeren Dingen und den unmittelbar auf sie bezogenen Empfindungen, Begierden und Leidenschaften entgegengesetzt. Alles, was auf eigennützige Absichten und augenblicklichen Genuß hinausgeht, widerstrebt ihr natürlich und kann niemals in sie übergehen. Aber auch viel höhere und edlere Dinge, wie Wohltätigkeit, Sorge für die, die einem nahestehen, mehrere andere gleich sehr zu billigende Handlungen sind auch
nicht dahin zu rechnen und beschäftigen denjenigen, dessen Leben auf Ideen beruht, nicht anders, als daß er sie tut, sie berühren ihn nicht weiter. Sie können aber auf einer Idee beruhen und tun es in idealistisch gebildeten Menschen immer. Diese Idee ist dann die des allgemeinen Wohlwollens, die Empfindung des Mangels desselben wie einer Disharmonie, wie eines Hindernisses, das es unmöglich macht, sich an die Ordnung höherer und vollkommener Geister und an den wohltätigen Sinn, der sich in der Natur ausspricht und sie beseelt, anzuschließen. Es können aber auch jene Handlungen aus dem Gefühl der Pflicht entspringen, und die Pflicht, wenn sie bloß aus dem Gefühl der Schuldigkeit fließt, ohne alle und jede Rücksicht auf Befriedigung einer Neigung oder irgendeine selbst göttliche Belohnung, gehört gerade zu den erhabensten Ideen. Von diesen muß man hingegen auch absondern, was bloß Kenntnis des Verstandes und des Gedächtnisses ist. Dies kann wohl zu Ideen führen, verdient aber nicht selbst diesen Namen. Sie sehen schon hieraus, daß die Idee auf etwas Unendliches hinausgeht, auf ein letztes Zusammenknüpfen, auf etwas, das die Seele noch bereichern würde, wenn sie
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