Briefe an eine Freundin
sich auch von allem Irdischen losmachte. Alle großen und wesentlichen Wahrheiten sind also von dieser Art. Es gibt aber sehr viele Dinge, die sich nicht ganz mit den Gedanken fassen und ausmessen lassen und darum doch nicht minder
wahr sind. Bei vielen von diesen tritt dann die künstlerische Einbildungskraft ein. Denn diese besitzt die Gabe, das Sinnliche und Endliche, zum Beispiel die körperliche Schönheit, auch unabhängig vom Gesicht und seinem seelenvollen Ausdruck so darzustellen, als wäre es etwas Unendliches. Die Kunst, die Poesie mit eingeschlossen, ist daher ein Mittel, sehr vieles in Ideen zu verwandeln, was ursprünglich und an sich nicht dazu zu rechnen ist. Selbst die Wahrheit, wenn sie auch hauptsächlich im Gedanken liegt, bedarf einer solchen Zugabe zu ihrer Vollendung. Denn wie wir bisher die Idee nach ihrem Gegenstand betrachtet haben, so kann man sie auch nach der Seelenstimmung schildern, die sie fordert. Wie sie nun, dem Gegenstand nach, ein Letztes der Verknüpfung ist, so fordert sie, um sie zu fassen, ein Ganzes der Seelenstimmungen, folglich ein vereintes Wirken der Seelenkräfte. Gedanke und Gefühl müssen sich innig vereinigen, und da das Gefühl, wenn es auch das Seelenvollste zum Gegenstande hat, immer etwas Stoffartiges an sich trägt, so ist nur die künstlerische Einbildungskraft imstande, die Vereinigung mit dem Gedanken, dem das Stoff artige widersteht, zu bewirken. Wer also nicht Sinn für Kunst oder nicht wahren und echten für Musik oder Poesie besitzt, der wird überhaupt schwer Ideen fassen und in keiner gerade das wahrhaft empfinden, was darin Idee ist. Es ist ein solcher Unterschied zwischen den Menschen in
ihrer ursprünglich geistigen Anlage gegründet. Die Bildung tut hierzu nichts. Sie kann wohl hinzutun, nie aber schaffen, und es gibt hundert künstlerisch und wissenschaftlich gebildete Menschen, die doch in jedem Worte deutlich beweisen, daß ihnen die Naturanlage, mithin alles fehlt. Der große Wert der Ideen wird vorzüglich an folgendem erkannt: Der Mensch läßt, wenn er von der Erde geht, alles zurück, was nicht ganz ausschließlich und unabhängig von aller Erdenbeziehung seiner Seele angehört. Dies aber sind allein die Ideen, und dies ist auch ihr echtes Kennzeichen. Was kein Recht hätte, die Seele noch in den Augenblicken zu beschäftigen, wo sie die Notwendigkeit empfindet, allem Irdischen zu entsagen, kann nicht zu diesem Gebiete gezählt werden. Allein diesen Moment, bereichert durch geläuterte Ideen, zu erreichen, ist ein schönes, des Geistes und des Herzens würdiges Ziel. In dieser Beziehung und aus diesem Grunde nannte ich die Ideen das einzig Bleibende, weil nichts anderes da haftet, wo die Erde selbst entweicht. Sie werden mir vielleicht Liebe und Freundschaft entgegenstellen. Diese sind aber selbst Ideen und beruhen gänzlich auf solchen. Von der Freundschaft ist das an sich klar. Von der Liebe erlassen Sie mir zu reden. Es mag an sich eine Schwachheit sein, aber ich spreche das Wort ungern aus und habe es ebensowenig gern, wenn man es gegen mich ausspricht. Man hat oft wunderbare
Ansichten von der Liebe. Man bildet sich ein, mehr als einmal geliebt zu haben, will dann gefunden haben, daß doch nur das eine Mal das Rechte gewesen sei, will sich getäuscht haben oder getäuscht sein. Ich rechte mit niemandes Empfindungen. Aber was ich Liebe nenne, ist ganz etwas anderes, erscheint im Leben nur einmal, täuscht sich nicht und wird nie getäuscht, beruht aber ganz und viel mehr noch auf Ideen.
Ich fürchte aber, Sie ermüdet zu haben, ohne Ihnen vollkommen klar zu werden. In diesem Fall verzeihen Sie mir. Sie wollten ausdrücklich, daß ich Ihnen darüber schreiben sollte, und die Schwierigkeit liegt in der Sache. Vielleicht aber finden Sie doch etwas darin, woran Sie sich halten können, und wenn Sie von da aus Fragen tun, so kann ich Ihnen weitere Erläuterungen geben, was ich von Herzen gern tun will. Wie immer der Ihrige. H.
Tegel
, den 7. April 1833.
I ch bin schon lange im Besitz Ihres Briefes, liebe Charlotte, habe aber nicht früher dazu kommen können, ihn zu beantworten. Sie haben ihn bloß vom Monat März datiert und gegen Ihre Gewohnheit nicht den Tag des Abgangs vermerkt. Ich bitte Sie, ihn künftig immer hinzuzusetzen. Ein Brief, von dem man nichts als den Monat weiß, ist eine zu unbestimmte Mitteilung, und ich habe immer auf
die Tage gehalten. Man kann eher noch etwas im Raum unbegrenzt lassen. Die Empfindung der
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