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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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sich oft reiner beim
Volke als bei der Klasse der gebildeten, aber nicht ganz durchgebildeten Personen. Es scheint mir auch nicht, daß die Verfasser der alten Kirchenlieder solche Stellen aufnahmen, um sich auf diese Art an die Vorstellungsart und die Sprache des Landmanns anzuschließen, ihm verständlicher zu werden und seine Empfindungen lebendiger anzuregen. Was wir geschmacklos finden, erschien ihnen nicht so, das lag in ihrer Zeit, wo wahrhaft deutsche Bildung feinerer Art kaum vorhanden war, und die Gebildeten, insofern ihre Bildung nicht eine ausländische oder gelehrte war, in der Tat sich weniger vom Volke unterschieden als jetzt. Jene alten Kirchendichter, und namentlich Paul Gerhard, in welchen einzelne uns mißfällige Stellen nur unwesentliche Flecke sind, verstanden es weit besser, den Punkt zu finden, wo man dem Volke durchaus verständlich und seine Gefühle anregend ist, ohne sich in den Begriffen herabzustimmen und an ihrer Richtigkeit nachzulassen oder eine unedle Sprache anzunehmen. Diese wahre Volksmäßigkeit ist ein hauptsächliches Erfordernis guter und zweckmäßiger Kirchengesänge. Denn die Kirche ist für alle, es soll sich in ihr kein Kreis vornehmer oder höherer Bildung absondern; der wahrhaft Gebildete soll aber auch durch nichts ihn Verletzendes zurückgestoßen werden. Beides kann erreicht werden, ohne daß eines dem anderen Abbruch täte. Denn alles rein und natürlich Menschliche, frei von Künstelei
und Gelehrsamkeit in Sachen der Erkenntnis und von Verzärtelung und Überspannung in Sachen des Gefühls, ist dem Volke und besonders dem Landmanne, dem ich hierin viel mehr zutraue als dem Städter, gewiß nicht bloß vollkommen verständlich, sondern auch seiner Emfindung zugänglich, und eben dies tief und echt Menschliche ist auch die Grundlage aller wahren Bildung. In diesen Ausgangspunkten des menschlichen Denkens und Empfindens begegnen sich, wenigstens in Deutschland, alle Klassen der Nation. Ebenso vereinigen sie sich in dem Verständnis einer einfachen, klaren und würdigen Sprache, wie man an Luthers Bibelübersetzung sieht, die sich nie zum Gemeinen herabläßt und – die Stellen ausgenommen, wo die Schwierigkeit in dem Sinne und den Sachen liegt. – zugleich allgemein verständlich ist. Sich recht nahe an die biblische Sprache zu halten, ist auch für Kirchengesänge der sicherste Weg, auch schwierigeren Ideenreihen in das Gemüt des Volks Eingang zu verschaffen. Wenn man, wie nicht selten geschieht, von einem Prediger mit Rühmen erwähnt, daß er für die gebildeten Klassen erhebend und belehrend predige, so halte ich das für ein sehr einseitiges Lob, und wenn er es nicht versteht, ebenso erbaulich für das Volk und den gemeinen Mann zu predigen, für einen wahren Tadel. Die Kirche umschließt alle, und die Religionswahrheiten werden ihrer Natur angemessener, allgemeiner und menschlicher
aufgefaßt, wenn man sie auf allgemeine Verständlichkeit gründet. Die Scheidewand, die die gebildeten Stände vom Volke trennt, ist ohnehin schon zu groß; man muß daher mit doppelter Sorgfalt das hauptsächlichste Band erhalten, das sie noch zusammenknüpft. Leben Sie wohl und rechnen auf meine unwandelbare Teilnahme an allem, was Ihnen begegnet. Der Ihrige. H.
     
     
Tegel
, den 15. April bis 8. Mai 1834.
     

    S ie haben, liebe Charlotte, bemerkt, daß meine Handschrift in meinen zwei letzten Briefen größer, bestimmter und deutlicher geworden ist, und ich sah daraus, daß diese Veränderung Sie überraschen und Ihnen auffallen würde. Es ist ein Sieg, den mein Wille endlich durch festen Vorsatz über meine Hand davongetragen hat. In Hinsicht der Unbequemlichkeit, eigentlich nicht schreiben zu können, sondern alles diktieren zu müssen, bringt mich zwar diese Verbesserung nicht weiter, da die neue Methode eher langsamer als schneller wie die bisherige ist. Es ist indes doch ein wahrer Gewinn, daß es ordentlicher aussieht und keine Schwierigkeit zu lesen macht, da die vorige Schrift auf ängstliche Weise in Unleserlichkeit überging. Man kommt so im Alter auf die Kinderschrift zurück. – Es ist ein großer, wichtiger und mißlicher Punkt im Alter, der wenigstens mich beständig begleitende Zweifel,
ob die Jahre nicht allmählich eine Schwächung des Geistes oder Charakters oder beider unbemerkt hervorbringen. Wer vernünftig ist und wahr mit sich selbst umgeht, muß sich gestehen, daß es kaum anders sein kann. Alles nützt sich durch die Zeit ab, und die Abhängigkeit

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