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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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dann in männlichen Jahren hatte ich mir das lebhaft gedacht und gleichsam den Reiz vorher genossen, in den Jahren eine hinreichende Rechtfertigung zu finden, der Gesellschaft immer mehr und mehr zu entsagen, und jetzt, wo ich diesen Zustand wirklich erreicht habe, finde ich, was ich damals empfand, vollkommen bestätigt. Ich hatte mir das Alter immer reizend und viel reizender als die früheren Lebensepochen gedacht, und nun, da ich dahin gelangt bin, finde ich meine Erwartungen fast übertroffen. Daher mag es auch kommen, daß ich eigentlich in der Seele
gewissermaßen älter bin als körperlich und an Jahren. Ich bin jetzt 57 Jahre alt, und wer ohne große körperliche Ermüdungen und meist gesund und immer höchst regelmäßig und ohne Leidenschaften gelebt hat, welche die Gesundheit untergraben, kann da noch keine merkliche körperliche Abnahme fühlen. Allein die Ruhe des Geistes, die Freiheit von allem, was die Seele unangenehm spannt und aufreizt, die Unabhängigkeit fast von allem, was man sich nicht selbst durch innerliche Stimmung und Beschäftigung geben kann: diese Dinge sind alle in früheren Jahren schwerer zu erreichen, sind alsdann oft nur dann vorhanden, wenn, was noch viel schlimmer ist, sie aus Kälte und Unempfindlichkeit entstehen. Dennoch sind sie es vorzüglich, welche ein innerlich glückliches Leben geben und sichern. Es ist daher nicht ganz richtig, wenn man glaubt oder sagt, daß das Alter abhängiger von anderen Umständen und Zufällen mache. Körperlich und äußerlich ist es freilich wohl der Fall, allein auch nicht so viel, als man glaubt, da wenigstens bei gutgearteten und an Selbstbeherrschung gewöhnten Menschen die Begierden und selbstgeschaffenen Bedürfnisse noch viel mehr im Alter abnehmen als die Kraft, ihnen Befriedigung zu verschaffen. Auf der andern Seite aber gewinnt eben dadurch die viel wesentlichere und das Glück weit mehr befördernde Unabhängigkeit ungleich mehr. Mangel an Ergebung und Ungeduld sind eigentlich die
Dinge, welche alle Übel, welcher Art sie sein mögen, erst recht empfindlich machen und sie wirklich vergrößern. Gerade von diesen beiden Übeln heilt das Alter vorzüglich, immer eine Gemütsart vorausgesetzt, die keine einmal eingewurzelten unartigen Gewohnheiten hat, die freilich ihr Gift sonst in jedes Alter hinübertragen. Der größte Gewinn aber, der aus dieser größeren geistigen Freiheit, aus der Begierden- und Leidenschaftslosigkeit, dem gleichsam wolkenlosen Himmel, den zunehmende Jahre über das Gemüt hinführen, entsteht, ist, daß das Nachdenken reiner, stärker, anhaltender, mehr die ganze Seele in Anspruch nehmend wird, daß sich der intellektuelle Horizont erweitert und das Beschäftigen mit jeder Art von Wissenschaft und jedem Gebiet der Wahrheit immer mehr und mehr, ausschließend das ganze Gemüt ergreift und jedes andere Bedürfnis, jede andere Sehnsucht schweigen macht. Das nachdenkende, betrachtende, forschende Leben ist eigentlich das höchste; allein in gewisser Art läßt es sich doch nur im höheren Alter vollkommen genießen. Früher ist es im Streit mit der Aufforderung und sogar mit der Pflicht zu handeln, und erfährt nicht selten Störungen durch sie. Es wäre aber sehr unrichtig, wenn man in dem Wahne stände, daß ein solches Vergnügen an einem garnicht mit dem Leben und dessen Weltlichkeit zusammenhängenden Nachdenken eine große Bildung oder viele Kenntnisse voraussetze. Wo diese gerade bei
jemand zufällig vorhanden sind, da kann das Nachdenken vielfältige Gegenstände treffen, es ist da allerdings mehr Mannigfaltigkeit und ein wenigstens scheinbar weiterer Kreis. Allein gerade die dem Menschen notwendigsten, heiligsten und wahrhaft erfreulichsten Wahrheiten liegen auch dem einfachsten, schlichtesten Sinne offen, ja werden von ihm nicht selten richtiger und selbst tiefer aufgefaßt, als von dem, den großer Umfang von Kenntnissen mehr zerstreut. Diese Wahrheiten haben noch außerdem das Eigene, daß, ob sie gleich keines Grübelns bedürfen, um erkannt zu werden, vielmehr sich von selbst Eingang in das Gemüt verschaffen, daß immer in ihnen Neues gefunden wird, weil sie in sich wirklich unerschöpflich und unendlich sind. Sie knüpfen sich an jedes Alter an, allein doch am natürlichsten an dasjenige, was den endlichen Aufschlüssen über alle unendlichen Rätsel, die eben diese Wahrheiten enthalten, am nächsten steht. So stirbt zwar in höheren Jahren eine gewisse Lebendigkeit mehr ab; aber es ist dies nur

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