Briefe an eine Freundin
eine äußere, oft sogar fälschlich geschätzte. Die viel wohltätigere, schönere, edlere, die sich immer in fruchtbarer Klarheit entfaltet, gehört vielmehr erst recht eigentlich dem wahren Alter an. Ich weiß, liebe Charlotte, daß Sie über alle diese Gegenstände auch sehr übereinstimmend mit mir denken, und schmeichle mir also, daß es Ihnen nicht unangenehm sein wird, daß ich mich gewissermaßen gehen ließ,
darüber zu sprechen. Diese Dinge, über die sich nur mit wenigen reden läßt, sind ja wohl die natürlichsten Gegenstände für einen Briefwechsel, der, frei von Geschäften und äußeren einschränkenden Bedingungen, dann am meisten erfreut, wenn er ein recht ungezwungener vertraulicher Austausch persönlicher Stimmungen und Gesinnungen ist. – In Ottmachau hoffe ich, unter der Ihnen neulich gegebenen Adresse, einen Brief von Ihnen zu empfangen. Mit der aufrichtigsten Herzlichkeit der Ihrige. H.
Tegel
, den 12. September 1824.
I ch bin seit einigen Tagen aus Schlesien wieder hierher zurückgekommen, liebe Charlotte, und eine meiner ersten Beschäftigungen ist, Ihnen zu schreiben. Meinen letzten Brief aus Ottmachau werden Sie bereits empfangen haben. Der Herbst verspricht sehr schön zu werden, und ich habe mich darum doppelt gefreut, wieder hier zu sein, die letzten Monate der scheidenden besseren Jahreszeit zu genießen. Ich liebe bei weitem mehr das Ausgehen als das Beginnen des Jahres. Man blickt dann auf so manches, das man getan oder erlebt hat, zurück, man meint sich sicherer, weil der Raum kleiner ist, in dem noch Unfälle begegnen können. Alles das ist freilich eine Täuschung, ein Augenblick reicht hin zu dem größten. Aber so vieles im Leben, im Glück und im Unglück sogar, ist ja nichts
als Täuschung, und so kann man auch dieser stillere Momente verdanken. Ich bin zwar von Besorgnissen für mich sehr frei, nicht gerade, weil ich mich weniger Unfällen ausgesetzt glaubte, oder weil ich mich vor nichts Menschlichem fürchte, sondern schon früh das Gefühl in mir genährt habe, daß man immer vorbereitet sein muß, jedes, wie das Schicksal es gibt, durchzumachen. Man kann sich aber doch nicht entschlagen, das Leben wie ein Gewässer zu betrachten, durch das man sein Schiff mehr oder minder glücklich durchbringt, und da ist es ein natürliches Gefühl, lieber den kürzeren als den längeren Raum vor sich zu haben. Diese Ansicht des Lebens, als eines Ganzen, als einer zu durchmessenden Arbeit, hat mir immer ein mächtiges Mittel geschienen, dem Tode mit Gleichmut entgegen zu gehen. Betrachtet man dagegen das Leben nur stückweise, strebt man nur, einen fröhlichen Tag dem andern beizugesellen, als könne das nun so in alle Ewigkeit fortgehen, so gibt es allerdings nichts Trostloseres, als an der Grenze zu stehen, wo der Faden auf einmal abgebrochen wird.
Das Laub der Bäume fängt schon an, die Buntfarbigkeit anzunehmen, die den Herbst so sehr ziert und gewissermaßen eine Entschädigung für die Frischheit des ersten Grüns ist. Der kleine Ort, den ich hier bewohne, ist vorzüglich gemacht, alle Reize zu zeigen, welche große, schöne und mannigfaltige Bäume durch alle
wechselnden Jahreszeiten hindurch gewähren. Um das Haus herum stehen alte und breitschattige, und umziehen es mit einem grünen Fächer. Über das Feld gehen in mehreren Richtungen Alleen, in den Gärten und dem Weinberg stehen einzelne Fruchtbäume, im Park ist ein dichtes und dunkles Gebüsch, und der See ist vom Walde umkränzt, sowie auch alle Inseln darauf mit Bäumen und Büschen eingefaßt. Ich habe eine besondere Liebe zu den Bäumen und lasse nicht gern einen wegnehmen, nicht einmal gern verpflanzen. Es hat so etwas Trauriges, einen armen Baum von der Umgebung, in der er viele Jahre heimisch geworden war, in eine neue und in neuen Boden zu bringen, aus dem er nun, wie unwohl es ihm werden mag, nicht mehr herauskann, sondern langsam schmachtend sein Ausgehen erwarten muß. Überhaupt liegt in den Bäumen ein unglaublicher Charakter der Sehnsucht, wenn sie so fest und beschränkt im Boden stehen und sich mit den Wipfeln, so weit sie können, über die Grenzen der Wurzeln hinausbewegen. Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu sein. Im Grunde geht es dem Menschen mit aller scheinbaren Beweglichkeit aber nicht anders. Er ist, wie weit er herumschweifen möge, doch auch an eine Spanne des Raums gefesselt. Bisweilen kann er sie garnicht verlassen, und das ist oft
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