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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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Jetzt kommt es mir längst nicht mehr vor, in dieser Art eine Wirkung auf einen Menschen zu bezwecken. Wenn man meine Jahre erlangt hat, kann man sich teils nicht mehr so in andere Verschiedenheiten finden, teils muß man es nicht wollen. Man muß seine Individualität frei gewähren lassen, mit denen fortwandeln, die sich ihr anpassen und sich nach ihr richten wollen, und die andern nur mit allgemeinem Wohlwollen begleiten. – – –
    Sie sind also auch von der schnellen, wunderartig plötzlichen Erscheinung des Frühjahrs in diesem Jahr so betroffen gewesen? Ich meine, ich hätte es noch nie so erlebt. In einer einzigen Nacht stand ein großer alter Kirschbaum hier, der den Tag vorher noch nichts als nackte Reiser hatte, mit Blüten bedeckt da.
    Die wehmütige Empfindung, gerade in dem Aufleben der Natur, ist sehr begreiflich, und ist wohl allen Menschen eigen, die tiefer empfinden und genauer auf sich achten. Sie hindert darum das frühe Teilnehmen an der erwachenden Natur garnicht. Sie sprießt vielmehr
aus der Tiefe dieser Empfindungen selbst, denn jede wahrhaft tiefe Empfindung im Menschen wird von selbst wehmütig. Sehr natürlich. Der Mensch fühlt seine Schwäche, sein dem Wechsel und der Vergänglichkeit unterworfenes Dasein; und indem er nun in diesem, ihn scheinbar nur mit Unglück und Widerwärtigkeiten bedrohenden Dasein eine unendliche, ihn rund umgebende Güte erblickt, da die ganze Natur, gerade in diesem ersten Aufkeimen, überzuquellen scheint, um ihn mit Genüssen aller Art zu bereichern, so ist er darüber in seiner innersten Tiefe gerührt, was sich nur in wehmütiger Freude aussprechen kann. Eine andere Art der Wehmut, und eine schmerzlichere, kann auch, nach Beschaffenheit der verschiedenen Stimmungen, daher entstehen, daß man den Eintritt einer so großen Menge, wenn auch nicht nach menschlicher Art lebender Wesen, in erneuertes Dasein oder erneuerte Regsamkeit nicht ansehen kann, ohne zugleich an ihre Rückkehr in Winterschlaf und Tod zu denken, die ebenso plötzlich eintreten wird. Daß alles Leben nur ein der scheinbaren Vernichtung Entgegengehen ist, wird einem nie so klar, als in dem regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten. Die ganze Pflanzenwelt nun mit so harmlos zuversichtlicher Freude ins Leben treten zu sehen, als ahnte sie garnicht das winterliche Ersterben, hat ebenso etwas tief Rührendes, wie das Leben eines noch keine Gefahren ahnenden Kindes.
    Leben Sie herzlich wohl. Unwandelbar mit der herzlichsten, unveränderlichsten Zuneigung Ihr H.
     
     
Tegel
, den 15. Mai 1825.
     

    S o sehr ich auch die Natur liebe und gern in ihr weile, bin ich doch, seit ich hier bin, nicht sehr viel ins Freie gekommen. Wenn nicht Besuch kommt, was bei diesen kalten und regnichten Tagen nicht so häufig der Fall ist, pflege ich von sechs bis acht Uhr abends draußen zu sein. Ich ziehe den Abend dem Morgen besonders wegen des Sonnenuntergangs vor. Nicht leicht versäume ich diesen an irgend einem Tage zu sehen. Ich habe ihn immer werter gehalten als den Aufgang, obgleich das vielleicht nur daher kommt, daß man am Abend, nach vollendeten Geschäften, ruhiger und besser gestimmt ist, sich Natureindrücken zu überlassen. Den ganzen Tag über arbeite ich in meiner Stube, die aber nach der Mittags- und Abendseite die unmittelbare Aussicht nach dem Garten und hohen Bäumen hat. Dies Arbeiten in selbstgewählten Studien, unabhängigem Denken (denn meine eigentlichen Geschäfte kosten mir verhältnismäßig sehr wenig Zeit) kann ich eigentlich als mein Leben ansehen. Meine Ideen, und dies in Büchern, in Anschauungen, in Erfahrungen, wodurch sie genährt werden, beschäftigen mich eigentlich allein und ausschließend; und ich kann mit Recht sagen, daß ich mein sehr heiteres und
glückliches Dasein, wenn nicht allein, doch größtenteils ihnen verdanke. Hat man sich einmal an dies Leben in Ideen gewöhnt, so verlieren Kummer und Unglücksfälle ihre Stachel. Man ist wohl wehmütig und traurig, aber nie ungeduldig noch ratlos. Ich knüpfe, weil ich einmal diese Gewohnheit gefaßt habe, dies Nachdenken immer an gelehrte Beschäftigungen, aber ich suche mich immer und an jedem Punkte darin zu freien Ideen zu erheben, die sich dann an alles, was nicht wirklich, und an alles, was in der Wirklichkeit echten und wesenhaften Glanz, Gehalt und Reiz hat, knüpfen. In dieser höheren Region werden die Ideen, die als gelehrte Beschäftigungen nur für wenige bestimmt scheinen, wieder sehr einfach und knüpfen

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