Briefe in die chinesische Vergangenheit
nahm mich freundlich mit in sein Zimmer. Er erzählte mir viel vom Schulsystem der Großnasen, das sich, soweit ich es verstanden habe, hauptsächlich dadurch auszeichnet, daß es sich ständig ändert. Die Kinder kommen durchwegs mit sechs Jahren in die Schule und bleiben, bis sie vierzehn sind, manche bis achtzehn, manche, sofern sie sich einer Wissenschaft verschreiben, noch länger. Die unterste Stufe der Schulen heißt: »Schule des Volkes«, die höchste »Mutter der Wissenschaften«. Dazwischen gibt es viele Abstufungen und Seitenzweige.
Die Hauptschwierigkeit, mit der das Schulsystem und überhaupt das Bildungssystem zu kämpfen hat, ist, sagte mir der Direktor, nicht die Bösartigkeit, Unpünktlichkeit und Unaufmerksamkeit der Schüler, sondern die Tatsache, daß die Schulen von einem Minister und dessen Mandarinen überwacht werden, die zwar viele Vorschriften mit mühsamer Genauigkeit ausarbeiteten, vom Schulwesen aber keine Ahnung hätten. Die Hauptaufgabe der Lehrer bestünde darin, einen halblegalen Mittelweg zwischen den Untugenden der Schüler und den hanebüchenen Vorschriften des Ministeriums zu finden.
Was mir der Direktor nicht sagte, was ich aber aus vielen Äußerungen von ihm schloß, ist eine weit tiefer gehende Schwierigkeit im Bildungssystem, die auf eine auffallende Merkwürdigkeit in der Denkgewohnheit der Großnasen zurückzuführen ist. Ein Lehrer hier bei den Großnasen darf von einem Schüler sagen, er sei frech, er sei vorlaut, er sei faul, er sei unordentlich – der Lehrer darf nicht sagen: der Schüler sei dumm oder sei unbegabt. Das erschwert verständlicherweise den Standpunkt der Lehrer gegenüber den Familien der Schüler, denn wenn die Erziehung mißglückt, so ist das doch in den seltensten Fällen auf Frechheit und Unordnung zurückzuführen, sondern auf Dummheit und mangelnde Begabung. Aber gerade das dürfen die Lehrer nicht sagen. Es herrscht der ungeschriebene politische Sittenkodex, der besagt, daß alle gleich begabt sind. Woher kommt das? Es kommt von der an sich edlen Anschauung der Großnasen, daß alle Menschen gleich sind. Das ist im Gesetz verankert, das wird überall und immer betont, und wer es laut sagt, ist des Beifalls aller sicher. Ich habe mit Herrn Me-lon darüber gesprochen, der als Richter sehr darauf bedacht ist, alle Menschen gleich zu behandeln. Er war über meine Fragen und Ansichten zunächst wenig erfreut, mußte mir dann aber beipflichten. Ja – sagte ich – gleich behandeln schon; das ist ein hochachtbarer Grundsatz, wenn Arme und Reiche, Hochgeborene und Niedriggeborene, Schwarzhäutige und Bleichhäutige gleich behandelt werden, aber sind sie denn gleich? Sie wiegen gleich, ihre Seelen wiegen gleich, aber sie sind nicht gleich. Ein Dummer wiegt in seiner Menschlichkeit wie ein Weiser, und ihm darf so wenig Schaden oder Unrecht zugefügt werden wie jenem, aber gleich sind sie deswegen noch nicht. Das ist doch eine Verwirrung der Begriffe, wenn man Gewicht und Charakter vermengt.
Aber die Großnasen betreiben da seit alters her eine augenwischende Philosophie. Aus der Gleichheit der Menschen, aus dem gleichen Gewicht ihrer Seelen leiten sie eine Identität der Lebensansprüche her. Das geht so weit, daß sie heutigentags überhaupt die Tatsache verschiedener Begabung leugnen. Es ist nicht mehr erlaubt, der Ansicht zu sein, daß es Minderbegabte gibt. Erlaubt ist nur noch die Ansicht, daß alle Menschen völlig gleich sind. Da aber natürlich der bloße Augenschein gegen diese Ansicht spricht, haben sie die Seelen-Wissenschaft erfunden, mit deren Hilfe jede Minderbegabung wegdiskutiert werden kann, in dem Sinn, daß man herausfindet: der Minderbegabte ist nicht minderbegabt, sondern durch schädliche Vorkommnisse im Mutterleib, in seiner Jugend oder dergleichen beeinträchtigt.
Überhaupt ergibt sich aus der Verwechslung von Gleich-Sein und Gleich-Wiegen eine erstaunliche und unverständliche Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. Keiner darf als arm, als dumm, als krüppelhaft bezeichnet werden, selbst wenn er es wirklich ist. Die Großnasen haben Angst bei solcher Bezeichnung (die nur hinter vorgehaltener Hand vorkommt), den Betreffenden in seinen Rechten zu verletzen. Haben die Großnasen Angst, der Realität in die Augen zu schauen? Die Geschichte der Philosophie der Großnasen in den – von jetzt aus gesehen – zwei vergangenen Jahrhunderten ist die Geschichte der Abkehr vom Denken in der Realität. Die großnäsische Philosophie
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