Briefe in die chinesische Vergangenheit
selbst finstere und einsame, erfrischend sicher, nicht wie bei uns. Räuber gibt es wenig. Es ist so, als ob sich die Großnasen sowohl ihres Reichtums, wenn sie reich sind, wenn sie aber arm sind, sich ihrer Armut schämten. Dabei sind sie sonst alles andere als schamhaft, wie ich Dir schon mehrfach berichtet habe. Einzig und allein der A-tao-Wagen dient als Schmuck. Ja: Du lachst. Der A-tao-Wagen ist für die Großnase, und namentlich für die männliche solche, nicht ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Rangabzeichen. Je größer, je schneller, je greller und vor allem je lauter das A-tao ist, desto höher steht dessen Besitzer im Ansehen bei den anderen. Es versteht sich, daß A-tao-Wagen je größer und lauter, desto teurer sind. Ich habe den Rangunterschied deutlich beobachtet: ein nicht ganz so lauter A-tao-Wagen muß dem lauteren Platz machen. Das merkwürdige und für unsereinen völlig unverständliche aber ist, daß die einzelnen Abstufungen der A-tao-Wagen nicht dem Rang des Besitzers nach zugeteilt werden, wie es der Ordnung entspräche, vielmehr, daß jeder einen so laut hinhallenden A-tao-Wagen kaufen kann, wie er will und wie er es sich leisten kann. Das heißt, sagt mir Herr Shi-shmi (der einer der wenigen Großnasen ist, die freiwillig auf einen A-tao verzichten, obwohl sie sich einen leisten könnten), die meisten Leute kaufen sich weit größere und weiterhinhallende A-tao, als sie eigentlich bezahlen können, und verschulden sich hoch auf Jahre hinaus, nur um auf der Straße Ansehen zu gewinnen bei Leuten, die sie gar nicht kennen. Man könne davon ausgehen, sagt Herr Shi-shmi, daß in den weitesthinhallenden A-tao Leute sitzen, die sich so hoch verschuldet haben, daß sie nur löchrige Hosen tragen können, was man aber, da A-tao-Wagen nicht durchsichtig sind, nicht sehen kann. Jeder wisse das, sagt Herr Shi-shmi, dennoch sei die Achtung vor dem Besitzer eines weithinhallenden A-tao ungebrochen. Verstehe die Großnasen, wer will.
So bemühen sie sich also im normalen Leben, so wenig Rangunterschiede wie möglich zu zeigen, und nur wenn sie in ihrem A-tao sitzen und herumrasen, protzen sie. Wahrscheinlich, weil sie da allein sind und sich vor Nachfragen sicher fühlen. –
Aber ich wollte Dir von den Auswahlen erzählen. Das ist auch so eine Sache, die, wenn man sie einmal durchschaut hat, sehr gut erscheint, die den Großnasen aber unter ihren Händen pervertiert ist. Ich habe Dir schon viel früher geschrieben, daß es keinen Wang und keinen Kaiser und keine Dynastie mehr gibt. Keine der hohen Würden des Staates ist mehr erblich. Die Würdenträger werden gewählt. Herr Shi-shmi erklärte mir das: in bestimmten Abständen (meist sind es vier oder fünf Jahre) werden an die Bevölkerung, Männer wie Weiber, Zettel verteilt, auf denen die Namen der Personen aufgeführt sind, die sich für würdig halten, Minister oder Erster Minister oder Kanzler oder Stadt-Kwan oder dergleichen zu werden. An bestimmten Tagen dann gibt man den Zettel an gewissen Amtsstellen ab, nachdem man angekreuzt hat, welchen der Bewerber man den Vorzug gibt. Die Zettel werden gesammelt und ausgezählt, und derjenige, auf den die meisten Stimmen entfallen sind, ist für die nächsten vier, fünf Jahre Kanzler oder Ober-Mandarin. Ähnlich wird ein Gremium, eine Art Groß-Rat gewählt, der die Gesetze beschließt.
Das klingt alles nicht schlecht, dachte ich mir. »Aber«, sagte ich, »es wird sehr schwer sein, Personen zu finden, die schamlos genug sind, sich für würdig zu halten, auf die Auswahl-Listen gesetzt zu werden.«
»Im Gegenteil«, sagte Herr Shi-shmi, »sie prügeln sich darum.«
Verstehst Du das? Da entblößen sich diese Leute nicht, sich öffentlich hinzustellen und laut auf den Märkten zu schreien, was für hervorragende Eigenschaften sie haben, und daß man ja ihren Namen bei der Auswählung ankreuzen soll. Hast du so etwas Schamloses je gehört? Eigene Verdienste und seinen – angeblich – guten Charakter wie ein Jahrmarktschreier anzupreisen? »Das bringt doch nur einer«, sagte ich, »über sich, der eben gerade nicht die Würde hat, Ober-Mandarin zu werden.«
»So ist es, fürchte ich«, seufzte Herr Shi-shmi. Und das ist, dachte ich, der Haken an diesem an sich lobenswerten System.
Wie nicht anders zu erwarten – das kennen wir auch –, stemmen sich vor allem die, die schon Minister und dergleichen sind, dagegen, wieder herabzusinken. Es ist daher so, daß, je näher eine Auswahl kommt, desto
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